Ausstellung in Ingolstadt
Sinti und Roma in Deutschland: „Die Angst hört nie auf – nie!“

10.02.2024 | Stand 10.02.2024, 5:00 Uhr |

Kuratorin Agnes Krumwiede (l.) begrüßte die Gäste von der Staatlichen Berufsschule 1 in der Ausstellung „Unsere Menschen“ im Stadtmuseum. Foto: Hammer

Sie lebten hier ihr Leben. Zogen ihre Kinder groß. Arbeiteten. Genossen ihre Freizeit. Ingolstädterinnen und Ingolstädter. Ihre Gruppe verband allerdings ein grauenvolles Schicksal, von dem in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg nur wenige in ihrem Umfeld wussten. Hunderttausendfaches Leid, das in Gesellschaft, Politik, Justiz und Medien der frühen Bundesrepublik kaum jemanden interessierte: Diskriminierung, Verfolgung, Misshandlung und planmäßige Ermordung der Sinti und Roma im Horrorreich der Nazis.

Da waren zum Beispiel Franziska und Waldemar Klimkeit. Sie wurden in Konzentrationslager deportiert. Und überlebten. Viele Verwandte nicht. Die Klimkeits wohnten später in Ingolstadt, bis zu ihrem Tod.

Oder da waren die Geschwister Zilli und Otto Reichmann. Sie besuchte in Ingolstadt die Münsterschule, er die Moritzschule. 1943 kam die Familie Reichmann ins Vernichtungslager Auschwitz. Fast alle wurden ermordet, auch Zilli Reichmanns kleine Tochter Gretel.

Otto überstand die Qualen; er starb 2010. Zilli, die nach ihrer Heirat Schmidt hieß, hat als alte Frau vom Terror gegen die Sinti und Roma erzählt – nachdem sich viele Jahrzehnte lang fast niemand für diese Geschichte aus Deutschland interessiert hatte. Sie starb 2022.

Bis heute sagen viele Deutsche gedankenlos oder bösartig „Zigeuner“ – ein Schimpfwort für eine Minderheit.

Agnes Krumwiede erforscht seit Jahren die Biografien von Nazi-Opfern



Das Forschungsprojekt „Opfer des Nationalsozialismus in Ingolstadt“ am Zentrum Stadtgeschichte gibt den Ignorierten und Vergessenen ein Gesicht. Die Ausstellung „Unsere Menschen“ im Stadtmuseum (noch bis 17. März) erzählt mit vielen Fotos Biografien und erläutert den historischen Hintergrund. Autorin und Kuratorin ist Agnes Krumwiede. Sie beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der Geschichte der Opfer der so genannten „NS-Euthanasie“ – die systematische Ermordung von Kindern mit Behinderung – sowie der Verfolgung der Sinti und Roma. Agnes Krumwiede freut sich sehr über das Interesse von Schulklassen. Etwa zehn hat sie bisher durch die Sonderausstellung geführt.

Sehr interessierte Gäste von der Staatlichen Berufsschule 1



Diese Woche waren Schülerinnen und Schüler der Staatlichen Berufsschule 1 Ingolstadt zu Gast; sie lernen die Berufe Mechatronik sowie Fachinformatik. Die jungen Leute bewiesen gutes Grundwissen über den Nationalsozialismus und hörten sehr interessiert zu.

An Krumwiedes Seite: Laura Höllenreiner, Enkelin von Hugo Höllenreiner (1933 bis 2015), ein KZ-Überlebender. Der Ingolstädter besuchte unermüdlich Schulen, um zu berichten. Alle sollten es erfahren. Alle. „So weit es mir möglich ist, will ich auch erzählen, was passiert ist“, sagte Laura Höllenreiner. „Die Roma kamen aus Osteuropa. Wir sind seit 600 Jahren hier und sehen uns als deutsche Staatsbürger. Wir leben hier, wir arbeiten, unsere Kinder gehen hier in die Schule. Wir sind wie andere Menschen auch. Ganz normale Leute.“ Jedoch: Das hatte die Generation ihrer Urgroßeltern auch geglaubt.

Das „Fahrende Volk“ – ebenfalls eine Kränkung – erlitt von jeher Anfeindungen. Die Nazis verleumdeten und verfolgten in ihrem völkischen Wahn „Zigeuner“ und Juden als minderwertige Menschen. „Das Wort Zigeuner steht seither für Völkermord“, erklärt Agnes Krumwiede. Sie fügt an: „Die Ideologie eines rassereinen Volkes ist leider nicht ausgestorben. “

Angst vor erneuter Verfolgung



Viele Sinti und Roma in der Bundesrepublik fürchten, dass es bald wieder losgeht mit der Verfolgung, erzählt Laura Höllenreiner. „Wir sprechen oft darüber: Wo könnten wir dann hin? Wo könnten wir dann hin? Die Angst hört nie auf – nie.“

Am Ende unterhielten sich die Jugendlichen mit Agnes Krumwiede und Laura Höllenreiner genau darüber: Den Bezug des eben Erfahrenen zum Rechtsextremismus in der Gegenwart. Eine Schülerin sagte: „Es ist gut, das Geschehene zu reflektieren. Viele wissen gar nichts davon, kennen den Hintergrund nicht. Es ist sehr wichtig, heute daran zu erinnern, damit nichts verloren geht, und um dem vorzubeugen, dass es nicht noch mal passiert.“ Einen Schüler hat es sehr beeindruckt zu erleben, „wie stark sich Hugo Höllenreiner dafür eingesetzt hat, bekannt zu machen, was passiert ist“. Die Ausstellungsgäste können sich sicher sein: Laura Höllenreiner wird das Lebenswerk ihres Großvaters fortsetzen.

Stadtmuseum Ingolstadt. Geöffnet Dienstag bis Freitag, 9 bis 17 Uhr, Samstag und Sonntag, 10 bis 17 Uhr. Noch bis 17. März. Führungen mit Agnes Krumwiede und Angehörigen am 25. Februar und 17 März, Beginn jeweils um 15 Uhr.

Viele Sinti und Roma wurden bis lange nach 1945 in der Bundesrepublik diskriminiert


Etwa 500000 Sinti und Roma sind von Nationalsozialisten ermordet worden. Zehntausende wurden zwangssterilisiert. Doch es dauerte lang, bis Sinti und Roma in der Bundesrepublik als Opfergruppe anerkannt wurden. Die Überlebenden konnten nur für die Zeit zwischen dem „Auschwitz-Erlass“ vom 1. März 1943 (der Befehl von SS-Chef Heinrich Himmler, sie in Vernichtungslager zu deportieren) und dem Kriegsende Entschädigungen geltend machen.

1956 entschied der Bundesgerichtshof, dass die Sinti und Roma vor 1943 nicht aus rassistischen Gründen verfolgt worden seien. Vielmehr seien die Maßnahmen des Staats gegen „Zigeuner“ legitim gewesen, weil sie „durch eigene Asozialität, Kriminalität und Wandertrieb“ selbst für ihre Verfolgung verantwortlich gewesen seien. So ist es auf einer Tafel in der Ausstellung im Stadtmuseum zu lesen.

1963 korrigierte der BGH seine Entscheidung graduell. Jetzt stellte er fest: Bei der Verfolgung der Sinti und Roma seien bereits vor dem Auschwitz-Erlass „rassepolitische Gründe mitursächlich gewesen“. Erst 2015 schuf der BGH klare Verhältnisse. Präsidentin Bettina Limperg bezeichnete die „Zigeuner“-Rechtsprechung von 1956 als „unvertretbar“.

Die Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangsabtreibungen hatten jahrzehntelang keinerlei Anspruch auf Entschädigung. Die rechtliche Basis für die Verbrechen – das NS-Gesetz „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ – galt in den ersten Nachkriegsjahren „nicht als nationalsozialistische, sondern als rechtsstaatliche Norm“, heißt es. 1980 ermöglichte eine Härtefallregelung zumindest geringe Entschädigungszahlungen. „Erst im Jahr 1988 ächtete der Bundestag die Urteile der Erbgesundheitsgerichte.“

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