Zur Ausstellung in Ingolstadt
Vergessene Schicksale: Agnes Krumwiede widmet einen Bildband dem Schicksal der verfolgten Sinti und Roma

07.02.2024 | Stand 07.02.2024, 19:00 Uhr

Nach der Befreiung des Konzentrationslager Bergen-Belsen im April 1945: Zu sehen ist Hugo Höllenreiner, rechts mit angewinkeltem Bein, sowie weitere Mitglieder seiner Familie. Foto: Imperial War Museum

Gemeinsam mit Roberto Paskowski, dem Vorsitzenden des Ingolstädter Sinti Kultur- und Bildungsverein, hat Agnes Krumwiede Familien Deutscher Sinti in Ingolstadt besucht, um mit ihnen über ihr Verfolgungsschicksal zu sprechen. Bei einem dieser Besuche sagte der Sohn eines Holocaust-Überlebenden zu ihr: „Achtzig Jahre hat es gedauert bis mal jemand von euch vorbei kommt und fragt, was damals passiert ist.“

Der Schmerz ist groß bei den Sinti und Roma. Etwa 500000 von ihnen wurden während der Zeit des Nationalsozialismus ermordet. Erst ganz langsam kam die Not dieser Menschen, die Willkür, Grausamkeit und Ungerechtigkeit die ihnen widerfuhr ins öffentliche Bewusstsein, wurde staatliche Wiedergutmachung anerkannt. Wie es ihnen vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus erging, ist immer noch kaum dokumentiert.

Wie Sinti und Roma, die mit Ingolstadt verwurzelt sind, die Zeit der NS-Verfolgung erleben mussten, das hat nun die Autorin und Stadträtin Agnes Krumwiede in einem wichtigen und lesenswerten Buch dokumentiert. Unter dem Titel „Unsere Menschen“ berichtet sie über das Leben einiger Dutzend Persönlichkeiten der Sinti-und-Roma-Gemeinschaft, die alle in einem Zusammenhang mit Ingolstadt stehen. Bemerkenswert ist dabei, dass sie den einzelnen Menschen ungewöhnlich nahe gekommen ist. Es geht um das Schicksal von so vielen Sinti und Roma wie nur irgend möglich – so weit Informationen über sie in Archiven oder durch Interviews zu finden waren.

In Ingolstadt leben heute mehrere hundert Sinti und Roma. Es handelt sich nicht um beispielhafte Schicksale aus der Zeit des Nationalsozialismus, sondern um Menschen, deren Leiden jeweils für sich selbst steht, ohne dass eine Auswahl nach Bedeutung oder Wichtigkeit vorgenommen wurde. So entstand ein realistisches Bild der Opfer der NS-Verfolgung.

Agnes Krumwiedes Leistung ist enorm – was allein schon durch die seitenlangen Fußnoten dokumentiert ist sowie die zahllosen Interviews. Noch nie wurde so genau das Leiden der Sinti und Roma in Ingolstadt gewürdigt.

Bevor Krumwiede die einzelnen Personen porträtiert, schildert sie in ihrem Buch „Unsere Menschen“, das als Begleitband zur Ausstellung gleichen Titels im Stadtmuseum Ingolstadt dient, wie sich im, vor und während des Nationalsozialismus die Situation der Sinti und Roma zunehmend verschlechterte. Bereits vor der Machtübernahme der NS wurden Sinti und Roma von den Behörden erfasst. In den 30er Jahren durften sie ihren Aufenthaltsort nicht mehr verlassen, und ihnen drohte die Zwangssterilisierung entsprechend der Ideologie der „Rassenhygiene“. Systematisch wurden Sinti und Roma als „Asoziale“ und „Arbeitsscheue“ behandelt, oft mussten sie Zwangsarbeit leisten. Ähnlich wie Juden wurde ihnen die Teilhabe am öffentlichen Leben zunehmend verwehrt, Kindern der Schulbesuch verboten. In vielen Fällen wurden Berufsverbote verhängt. Ab 1939 begann die Deportation der Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich – was bedeutete, dass Sinti und Roma in Polen einfach ausgesetzt wurden. Ab 1943 begann die Deportation von Sinti und Roma in Vernichtungslager wie Auschwitz-Birkenau. Viele von ihnen wurden ermordet, entweder durch Zwangsarbeit, durch Massenerschießungen oder in den Gaskammern.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war es für die meisten NS-Verfolgten der Sinti-und-Roma-Gemeinschaft nur schwer möglich, als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt zu werden und eine Wiedergutmachung zu erhalten. In diesem Punkt unterscheidet sich das Schicksal der Sinti und Roma deutlich von demjenigen der verfolgten Juden, die es deutlich leichter hatten. Entschädigung erhielten sie lange Zeit lediglich ab dem sogenannten „Auschwitzerlass“. Dass Sinti und Roma diskriminiert und unterdrückt wurde, dass sie Berufsverbot erhielten, Schulen nicht besuchen konnten, in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt waren, Zwangsarbeit leisten mussten, unter posttraumatischen Belastungsstörungen litten und zwangssterilisiert wurden, fand keinen Niederschlag bei der Wiedergutmachung. Es dauerte auch bis 1982, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten als Völkermord anerkannt wurden.

Es ist dem Mut und der aufklärerischen Tatkraft einiger weniger Persönlichkeiten zu verdanken, dass inzwischen in der Öffentlichkeit weit mehr über das furchtbare Schicksal der Sinti und Roma bekannt ist. Einer von ihnen ist Hugo Höllenreiner. 1995 drehte der Bayerischen Rundfunk eine Dokumentation in der Reihe „Lebenslinien“ über ihn. Höllenreiner wurde bekannt, immer häufiger trat er in der Öffentlichkeit auf, berichtete etwa auch in Schulen vom Schicksal seiner Familie. Er war davon überzeugt, dass „die Konkretheit eines individuellen Schicksals wirkungsvoller zu vermitteln sei als ein Allgemeinwissen über das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen“. Hugo Höllenreiner wurde zu einer kleinen Berühmtheit. Anerkennung fand sein Wirken allerdings erst sehr allmählich. Er starb 2015 in Ingolstadt. 2023 entschied der Münchner Stadtrat, eine Straße nach ihm zu benennen.

Das Buch von Agnes Krumwiede zeigt vor allem, dass noch viel unternommen werden muss, um die Diskriminierung der Sinti und Roma vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus angemessen aufzuarbeiten.

DK


„Unsere Menschen“, Sinti und Roma vor, während und nach der NS-Verfolgung. Begleitband zur Ausstellung im Stadtmuseum Ingolstadt, noch bis 17. März. Hrsg.: Zentrum Stadtgeschichte Ingolstadt.