ERC-Serie, Teil 19
Thomas Greilinger, ein Mann für fast alles

26.03.2022 | Stand 23.09.2023, 2:12 Uhr

Der größte Moment in Thomas Greilingers Karriere: 2014 gewinnt der Torjäger mit dem ERC Ingolstadt die Meisterschaft. Foto: Bösl

Von Alexander Augustin

ERC-Serie, Teil 19: Vor drei Jahren verließ Thomas Greilinger den ERC Ingolstadt, um in seine Heimatstadt Deggendorf zurückzukehren. Wer gedacht hat, der 40-Jährige würde dort seine große Karriere locker ausklingen lassen, sieht sich getäuscht. Greilinger bekleidet beim Deggendorfer SC drei Posten: Oberliga-Stürmer, Sportdirektor, Nachwuchstrainer. Und manchmal sogar noch ein paar mehr.

Schachteln stapeln sich am Boden. Auf dem Schreibtisch reihen sich leere Cola-Flaschen aneinander, dazwischen liegen Zettel, Stifte, Verpackungen. Inmitten dieses Durcheinanders sitzt Thomas Greilinger. Es ist nicht sein Chaos, es ist nicht einmal sein Büro. Doch irgendwie scheint sich der 40-Jährige gerade hier wohl zu fühlen. Sein Handy vibriert, er drückt auf den roten Hörer. Abgelehnt. „Alle fünf Minuten klingelt’s heute“, sagt er und schüttelt grinsend den Kopf. „Mir kommt es vor, als würden die Leute in der Quarantäne nur rumsitzen und spekulieren, was noch zu tun ist.“ Greilinger versucht, klagend zu klingen, kann aber schwer verbergen, dass er sich gefällt in der Rolle des Krisenmanagers.



Die Lage beim Deggendorfer SC ist an diesem Donnerstag Mitte März so unübersichtlich wie das kleine Büro im Eisstadion. Eine Woche vor Start der Oberliga-Play-offs flattern Tag für Tag neue positive Corona-Tests herein. Spieler, Trainer, Verantwortliche hat es erwischt. Greilinger blieb bis dahin verschont – und ist plötzlich Mann für alles und noch mehr.

2019 hat es den Stürmer zurück in seine Heimatstadt gezogen – nach elf Jahren beim ERC Ingolstadt, einem halben Eishockeyspielerleben. Im Panther-Trikot ist er längst ein Held. Beim DSC, seinem Heimatklub sowieso. Greilinger, 2014 Deutscher Meister mit dem ERC, 834-facher DEL-Spieler mit 643 Torbeteiligungen, zeitweise bester Stürmer des Landes, könnte seine Karriere hier ausklingen lassen. Er denkt gar nicht dran.

Greilinger ist noch immer eine Attraktion



Auf dem Eis ist der Instinktspieler auch jenseits der 40 eine Attraktion, an guten Tagen kann er Oberligaspiele allein entscheiden. Abseits davon versucht er, Deggendorf, den einstigen Erstligisten, wieder auf die nationale Eishockey-Bühne zu heben. Er ist Sportdirektor und Jugendcoach. Dreifachbelastung, der Bayern-Fan Greilinger hat das Wort schon oft gehört, jetzt weiß er selbst, wie sie sich anfühlt.

„In normalen Zeiten bekommst du das schon gut unter einen Hut“, sagt er. „Momentan ist das natürlich etwas anders.“ Es ist 16 Uhr, Greilinger ist seit 8 Uhr morgens in der Eishalle, hat selbst trainiert, koordiniert und Anrufe aus der Quarantäne entgegengenommen. Gleich steht noch das Kindertraining an. Das ehemalige Talent braucht sich dazu nicht noch extra zu motivieren. Das liegt auch an Ben und Jonathan, seinen Söhnen, die gleich mit ihm aufs Eis gehen.

Die Zwillinge (8) haben in Deggendorf längst ihre Heimat gefunden, nachdem sie ihre ersten Lebensjahre in Ingolstadt verbracht haben. Deren Einschulung war der Hauptgrund für den Umzug der Familie zurück nach Deggendorf. „Hier hast du einfach alles“, sagt Greilinger. Er wohnt mit seiner Familie nur wenige hundert Meter vom Eisstadion entfernt.

„Du bist gleich in der Natur, die Stadt ist nicht so groß, dass du immer das Auto brauchst. Es gibt tausend Spielplätze. Für die Kinder ist Deggendorf super“, sagt Greilinger und meint damit auch die sportlichen Voraussetzungen. Der DSC setzt stark auf den Nachwuchs, Ben und Jonathan können sich hier bestens entfalten – und irgendwann in die Fußstapfen des Papas treten? „Es ist noch viel zu früh zu sagen, wie sie sich mal entwickeln. Das wird sich zeigen, wenn in ein paar Jahren die wilde Phase losgeht. Aber wenn ich ehrlich bin: Ich weiß nicht, ob ich in ihrem Alter so gut war.“

Greilingers wilde Phase



Die wilde Phase, Greilinger kennt sie ganz gut. In jungen Jahren wird er als das größte Sturmtalent des deutschen Eishockeys gehandelt, debütiert mit 18 für die München Barons in der DEL und wird prompt Deutscher Meister. In der Folge ist der Niederbayer Stammspieler in Schwenningen und Nürnberg. Doch sein Lebenswandel ist nicht immer ganz profihaft. „Ich war schon ein Hallodri“, sagte er einmal.

Als er sich mit 24 beim Inline-Hockey schwer am Knie verletzt und seine Karriere beenden muss, fällt er in ein tiefes Loch. Er wiegt zeitweise 130 Kilo, droht die Kontrolle über sein Leben zu verlieren. „Wenn du jung bist, rechnest du einfach nicht damit, dass es von einem Tag auf den anderen vorbei sein kann.“ Greilinger merkt: Ohne Eishockey geht er kaputt – und holt sich nach eineinhalb Jahren ohne Puck und Schlittschuhe die ärztliche Erlaubnis, wieder spielen zu dürfen. Mit dem Deggendorfer SC spielt er in der Saison 2006/2007 in der Bayernliga und schießt alles in Grund und Boden – 98 Torbeteiligungen in 37 Partien. Es ist der Beginn seiner zweiten Karriere, die ihn ein Jahr später nach Ingolstadt führt.

Ob er heute dankbarer sei, weil er nach seiner ersten Karriere eine zweite Chance bekommen hat? „Es war gut für mich zu sehen, dass es auch ein Leben nach dem Eishockey geben muss. Darauf bereitet dich ja keiner vor.“

Doch wer Greilinger so zuhört, dem fällt es schwer zu glauben, dass er ohne Eishockey überhaupt kann. Nachwuchstrainer wolle er auf jeden Fall bleiben, sagt er. Der Sportdirektorposten mache ihm Spaß, aber auf Dauer sollte es schon ein Job an der Bande sein. „Dass ich aufhöre und gleich Trainer werde, glaube ich aber nicht“, sagt er.

Aufhören. Greilinger nimmt dieses Wort ohnehin sehr ungern in den Mund. „Klar, mit 40 kannst du daran schon mal denken. Aber ich will nächstes Jahr auf jeden Fall noch einmal spielen. Ich fühle mich grundsätzlich fit, auch wenn die Wehwehchen natürlich mehr werden.“ Gerade hat er eine unangenehme Infektion auskuriert: „Ich habe über eine Wunde Bakterien in meinen Körper bekommen, ähnlich wie bei einem Krankenhauskeim. Dadurch haben sich immer andere Gelenke in meinem Körper entzündet.“ Nach drei Wochen Antibiotika hofft er auf ein Comeback noch in den Play-offs.

Nach dem Corona-Ausbruch haben die Deggendorfer ihre Ziele nach unten korrigiert, müssen nun täglich schauen, welche Akteure einsatzfähig sind. Mittelfristig, sagt auch Greilinger, sei das Ziel die Rückkehr in die DEL2. Allerdings müsse dafür zunächst ein Fundament geschaffen werden. „Wenn du schnell hochgehst, gehst du auch schnell wieder runter. Das kann nicht der Ansatz sein.“

Greilinger gestaltet diesen mit, setzt als Sportdirektor bei der Kaderzusammenstellung auf einen Mix aus Talenten und Routiniers. Ehemalige DEL-Profis wie die gebürtigen Deggendorfer und Ex-Ingolstädter Timo und Thomas Greilinger oder der langjährige Straubinger René Röthke sollen junge Spieler, bevorzugt aus der eigenen DNL-Jugend, führen. Nach einem großen Umbruch im Sommer steht der Kern der Mannschaft für die kommende Spielzeit bereits. Der ehemalige ERC-Sportdirektor Jiri Ehrenberger bleibt Trainer. „Jiri wohnt in Deggendorf. Einen besseren als ihn wirst du für die Oberliga nicht finden“, sagt Greilinger, der mit dem 66-Jährigen in Ingolstadt Meister wurde.

Greilinger denkt jetzt perspektivischer



Greilinger hat die Von-Spiel-zu-Spiel-Mentalität eines Spielers abgelegt, denkt perspektivischer – zumindest beim DSC. Einen persönlichen Plan für die Zeit nach der aktiven Laufbahn hat er nicht. „Man muss über alle Optionen nachdenken, wenn sie sich auftun.“ Also auch eine Rückkehr nach Ingolstadt? „Solange kein Anruf kommt, brauche ich darüber nicht nachdenken“, sagt Greilinger und grinst. „Es war eine super Zeit in Ingolstadt, ich war elf Jahre dort, das muss was heißen.“

Seine Heimat ist aber Deggendorf, jetzt auch sportlich. Er fühlt sich wohl als Mister DSC. Auch wenn es manchmal ein bisschen chaotisch zugeht. Das Kindertraining ruft, Greilinger verlässt das Büro in Richtung Innenraum des Stadions. Das Chaos bleibt zurück. Um alles kann er sich nun auch nicht kümmern.

Serie



Seit dem Aufstieg im Frühjahr 2002 gehört der ERC Ingolstadt zu den beständigsten und erfolgreichsten Klubs der Deutschen Eishockey-Liga (DEL), 2014 feierten die Panther sogar sensationell ihre erste und bislang einzige deutsche Meisterschaft. Die aktuelle Spielzeit 2021/22 ist die 20. der Ingolstädter in der DEL. Das Jubiläum nehmen wir zum Anlass, saisonbegleitend in einer 20-teiligen Serie Gesichter und Geschichten aus der DEL-Historie des ERC neu zu beleuchten und zu erzählen. Dafür besuchen wir einstige Panther-Helden in ihrem Leben nach der Karriere, sprechen mit prägenden Figuren und zeigen die größten Momente in Bildern. Alle Episoden der Serie finden Sie hier.