Fußball-WM
Glosse zum WM-Eröffnungsspiel: Kataris und Kinder zuerst

22.11.2022 | Stand 19.09.2023, 3:49 Uhr

Die rote Fanwand aus eingekauften Ultras machte Lärm für Gast- und Geldgeber Katar bis zum bitteren Ende. Foto: Imago Images

Nach Katastrophen wird natürlich immer ein Schuldiger gesucht. Und so sind die stolzen Menschen im schönen Belfast schnell auf einen Spruch gekommen, um ihre Arbeit zu rühmen und alles andere von sich zu weisen: „She was alright when she left here“ („Sie war in Ordnung, als sie hier aufbrach“).



So kann man es heute noch auf T-Shirts lesen. Von ihren nordirischen Werften aus hatten sie ein Wunderwerk der modernen Technik auf die Weltmeere hinaus gesendet. Bis ihre unsinkbare Titanic bereits auf der Jungfernfahrt die Bekanntschaft mit einem Eisberg machte. Der Rest ist nautische Geschichte.

Während sich die Passagiere auf dem sinkenden Luxusdampfer damals in die Boote retteten, spielte die Bordkapelle auf Befehl bis zum bitteren Ende weiter; umrahmte die Tragödie mit vertrauten Klängen. In ihrem Geiste tat sich 110 Jahre später eine ebenso eingeschworene, wenn auch mutmaßlich besser bezahlte Laienkapelle hervor, die wacker die Stimme erhob, als um sie herum die Welt in Trümmer zerbarst. Die weinrote Fanwand mit den engagierten Ultras aus allerlei arabischen Ländern gab beim Eröffnungsspiel alles für Gast- und Geldgeber Katar – bis sie mit den Machthabern um den Emir und den Fifa-Funktionären in den VIP-Logen fast alleine im Stadion verblieben war. Alle anderen einheimischen Zuschauer hatten sich getreu dem Seefahrer-Motto „Kataris und Kinder zuerst“ bereits nach der Halbzeit aus dem Stadion gerettet und waren dem 0:2-Fiasko lebend entkommen.

„Beste WM aller Zeiten“

Tapfer hielt der Kapitän des Weltfußballverbandes höchstpersönlich die Stellung auf der Brücke, während die Costa Kataria schwere Schlagseite im WM-Sturm bekam. Gianni Schettino, äh, Infantino musste an eine Fata Morgana wie einen Eisberg in sengender Hitze glauben, als er die sich lichtenden Reihen oben und die überforderten Wüsten-Kicker unten bei der „besten WM aller Zeiten“ erblickte. Anders als seinen italienischen Kapitäns-Kollegen damals vor der Insel Giglio überkam den Fifa-Präsidenten bei der größten Havarie der WM-Geschichte zumindest nicht gleich der Fluchtreflex. Er blieb pflichtbewusst an Bord des zig Milliarden Euro teuren Vergnügungsdampfers in Seenot am Persischen Golf. Zumindest nach Schuldigen muss man aber nicht lange suchen.

Christian Rehberger