Ingolstadt
Verborgenes sichtbar machen

Umfassende Werkschau von Susanne Tunn im <?ZP?>Lechner-Museum Ingolstadt – Eröffnung an diesem Sonntag

24.09.2022 | Stand 22.09.2023, 5:20 Uhr

Archaisches Material: Wie Säulenfragmente antiker Tempel muten die Steinskulpturen von Susanne Tunn im Lechner-Museum an. Foto: Hauser

Am Lechner-Museum schätzt Susanne Tunn vieles. Die Glasfront, die den Blick nach draußen freigibt – jetzt auch auf eine ihrer Steinskulpturen neben der von Alf Lechner, mit dem sie eine 30 Jahre währende Künstlerfreundschaft verband. Das Tageslicht im oberen Stockwerk, das durch die Sheddachfenster fällt, begeistert Susanne Tunn. Und der Fußboden gleich in zweifacher Hinsicht. Die Qualität des einheitlichen, makellosen Grau. Und dass die bis zu zwölf Tonnen schweren Werke überhaupt so problemlos platziert werden können. In den meisten Museen ginge das gar nicht, manchmal wegen der Fußbodenheizung nicht. „Das ist ein echtes Bildhauermuseum“, sagt sie und ist glücklich, dass sie das ganze Haus alleine bespielt und somit ihr ausgeklügeltes Ausstellungskonzept mit Blickachsen zwischen Fotografie und Skulptur, mit effektvollen Leerstellen und unterschiedlicher Lichtsituation im Raum umsetzen kann. Ab Sonntag zeigt nun eine der bedeutendsten Steinbildhauerinnen Deutschlands in ihrer Ausstellung „Kraft der Stille“ schwere Materie im XXL-Fomat im Erdgeschoss und die kleineren, aber noch immer imposanten Formate, Fotografien, grafischen Arbeiten, Collagen, Wandmalereien, Kunstwerke aus Zinn im oberen Stockwerk.

Akribisches Schaffen in Steinbrüchen

Susanne Tunn war schon einmal im Lechner-Museum zu sehen. 2006 mit „Perlen aus Stein“. Nun eine Werkschau, die ihre vielen Facetten zeigt. Die 1958 in Detmold geborene Künstlerin, die inzwischen im brandenburgischen Spreewald in einem ehemaligen Gutsverwalterhaus mit Park und altem Baubestand und in Andalusien lebt, füllt das Museum, aber überfrachtet es nicht. So wie sie lieber weniger statt in der Masse produziert. Dafür aber umso präziser, sich und dem Stein im Entstehungsprozess Zeit lässt – und vor allem stets selbst Hand anlegt. Nicht, wie manch andere Kollegen, Großskulpturen nach Entwürfen in fernen Ländern arbeiten lässt.

Ein Exponat der Werkgruppe der Säulenfragmente etwa – diese immensen unterschiedlichen Zylinder, die von antiken Tempeln stammen könnten, die stets rundrum bearbeitet sind und in unterschiedlichen Positionen aufgestellt werden könnten – ist in einem südnorwegischen Steinbruch entstanden. Schwerstarbeit mit großer Akribie für jedes noch so kleine Detail. Blau-grau schimmernder Labradorstein, aufgebrochene Strukturen, Bohrrillen, Spuren. Mit großen Maschinen will Susanne Tunn so fein und behutsam wie möglich mit diesem archaischen Material umgehen. An Grenzen gehen, das Machbare ausloten. Auch dem Zufall situativ eine Chance geben. Eine ganze Landschaft eröffnet sich auf dem Werk aus Muschelkalk, der aus einem Steinbruch in der Nähe von Würzburg stammt. Auch hier belässt sie das wuchernde Grünzeug. Flechten, Moos, gießt alles immer wieder einmal. Berg und Garten.

Susanne Tunn, die an länderübergreifenden Skulpturen-Projekten und mit Frank O. Gehry oder Jan Hoet zusammengearbeitet hat, gelingt es, das massive Material in seiner Einzigartigkeit, das Innenleben und das Wesen dieser herausgebrochenen oder geschnittenen, rauen Steinbrocken erst sichtbar zu machen. Sie nimmt sich Zeit, einen Stein zu verstehen, heilt ihn auch schon mal mit Intarsien, wenn er beim Abbruch Schaden genommen hat, lässt in der Bearbeitung Leerstellen, die das Auge schließt, spielt mit der Wahrnehmung des Betrachters. Alf Lechner hat 2006 gesagt: „Susanne Tunn gibt dem Stein sein Geheimnis zurück.“

Im Obergeschoss des Museums präsentiert Susanne Tunn zum ersten Mal den ganzen, zwischen 1990 und 2022 entstandenen Zyklus „Die Große Melancholie“. Inspiriert von Albrecht Dürers Kupferstich „Melancolia I“ von 1514, auf dem ein Polyeder abgebildet ist, hat sie aus andalusischem Macaelmarmor wie in einer naturwissenschaftlichen Versuchsanordnung komplexe, geometrische Formen, Varianten des Achtecks geschaffen. Vergleichbar variantenreich sind ihre grafischen Arbeiten und Collagen in Schwarz-Weiß sowie ihre bestechend reduzierten Fotografien.

Schimmerndes Netz aus Zinn

Faszinierend sind die Arbeiten aus reinem Zinn. Die große, verblüffende Bodenarbeit ist so etwas wie ein recyceltes Kunstwerk. In Osnabrück hat die experimentierfreudige Künstlerin mit dem Anspruch, Verborgenes sichtbar zu machen, 2015 die Fugen des Fußbodens der früheren Dominikanerkirche mit fünf Tonnen des glänzenden Schwermetalls ausgegossen. Entstanden ist ein 400 Quadratmeter großes Raster, das nach Ende des Projekts wieder eingeschmolzen wurde. Tunn hat große Teile ihres Werks gekauft – nun präsentiert sie es in Ingolstadt das erste Mal. Verwandelt, neu, erinnernd, in großer Leichtigkeit. „Mich interessieren Spuren, als Linien, Zeichnungen, Zeitabläufe, von Maschinen, Menschen, Natur und meiner Arbeit“, hat sie einmal gesagt.

DK


Lechner-Museum Ingolstadt: bis 10. September 2023, Do bis So von 10 bis 17 Uhr. Eröffnung am Sonntag, 25. September, um 11 Uhr. Es sprechen Kulturreferent Gabriel Engert, die Kunsthistorikerin Dorotheé Bauerle-Willert und Daniel McLaughlin, Kurator der Alf-Lechner-Stiftung. Den musikalischen Rahmen bietet Gitarrist Thomas Etschmann. Kombi-Führung – Lechner Museum und Skulpturenpark Obereichstätt – ab 30. Oktober, jeweils am letzten Sonntag im Monat.