Verkettung vieler Zufälle?
Zum Bahnunfall in Reichertshausen: Theorie eines „blinden Flecks“ in der Sicherheitstechnik

29.11.2023 | Stand 30.11.2023, 6:34 Uhr

Am Reichertshausener Bahnhof sind vor anderthalb Wochen eine Regionalbahn und ein ICE seitlich zusammengestoßen. Foto: Kneffel/dpa

Das Bahnunglück mit sieben Verletzten am 17. November in Reichertshausen (Landkreis Pfaffenhofen an der Ilm) wirft Fragen auf: Haben Menschen Fehler gemacht? Gab es technische Gründe? Oder beides?



Bis Klarheit herrscht und ein Abschlussbericht der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU) vorliegt, vergehen in vergleichbaren Fällen gerne mal mehrere Monate oder Jahre.

Belastbare Informationen zu möglichen Unfallursachen gibt es bislang nicht. Eine Sprecherin der Deutschen Bahn bittet auf Anfrage um Verständnis, dass sich das Unternehmen mit Blick auf die laufenden Ermittlungen nicht weiter äußern könne.

Es muss nicht immer menschliches Versagen sein



Verschiedene Theorien kursieren bereits seit dem Tag des ungewöhnlichen Unfalls. Schnell zur Hand war dabei der Verdacht mutmaßlichen menschlichen Versagens – also die Annahme, dass etwa die Sicherheitsautomatismen manuell übergangen worden sein könnten. Insbesondere in einschlägigen Fachforen im Internet werden mögliche Ursachen diskutiert. Als führend gilt dabei „Drehscheibe online“ – und dort findet sich eine Theorie, die sich nicht damit zufriedengibt, frühzeitig menschliches Versagen anzunehmen.

DONAUKURIER-Titelfoto gibt Hinweis



Ein User mit dem Nutzernamen „Pufferteller“, dessen Identität der Redaktion bekannt ist, will ein entscheidendes Puzzlestück auf einem Foto unserer Zeitung erkannt haben – und zwar auf einem winzigen Detail des Titelfotos vom 18. November: Die Sicherheitsweiche, die die Regionalbahn zum Prellbock statt aufs ICE-Gleis hätte lenken müssen, ist auf dem Foto augenscheinlich korrekt umgelegt – aber erst hinter den vorderen beiden Achsen des Triebwagens. Das Drehgestell mit den hinteren beiden Achsen hingegen wäre schon Richtung Prellbock geleitet worden, wäre der Zug nicht just in diesem Moment zum Stillstand gekommen. Weil dadurch die Weiche korrekt stand und durch die ungewöhnliche Konstellation mutmaßlich kein Alarm im Stellwerk geschlagen wurde, so die Theorie, habe der von Pfaffenhofen her nahende ICE kein Haltesignal bekommen – und der Lokführer habe erst notbremsen können, als er die in sein Gleis ragende Regionalbahn selbst sah.

Offizielle Stellen bestätigen und dementieren nicht



Die zuständigen Behörden haben diese Beobachtung bislang weder bestätigt, noch dementiert. Das Ergebnis würde sich aber mit den Mitteilungen der Bundespolizei decken: Der bremsende ICE schlitterte demnach noch rund 50 Meter an der Spitze des RB-Triebwagens entlang, bis er ganz zum Stillstand kam. Wie durch ein Wunder endete das Unglück glimpflich mit nur sieben Leichtverletzten.

„Momentan die einzig plausible Theorie“



Doch genau für solche Fälle gibt es eigentlich zuverlässige Schutztechnik. „Vielleicht ist das ein Fall, von dem man glaubte, dass er nicht auftreten kann“, berichtet der Bahnenthusiast „Pufferteller“, der sich in seiner Freizeit intensiv mit der Rekonstruktion von Bahnunglücken befasst. „Und es ist momentan die einzige plausible Theorie.“ Darauf liegt auch ausdrücklich die Betonung: eine Theorie. Sie geht davon aus, dass im Moment einer Weichenumstellung das Belegtsignal der Weiche im Stellwerk ins Leere läuft . „So weiß das Stellwerk nicht, dass das erste Drehgestell schon über die erste Weiche gerutscht ist.“ Das sei zwar eine „abstrakte technische Lücke, die nur in genau diesem Moment bei genau dieser Geschwindigkeit bei genau dieser örtlichen Gegebenheit möglich ist“, so der Bahnkenner. Aber als „eine Verkettung von vielen kleinen Zufällen“ sei sie auch nicht auszuschließen.

Lesen Sie dazu auch unsere Plus-Geschichte: Die detaillierte Theorie, wie der Unfall technisch erklärbar ist

Fachliche Zweifel an der Annahme



Ein ausgewiesener Fachmann auf diesem Gebiet ist Professor Jörn Pachl, Leiter des Instituts für Eisenbahnwesen und Verkehrssicherung an der Technischen Universität Braunschweig. „Die Gleisfreimeldung einer Weiche funktioniert unabhängig von einem Umstellvorgang“, teilt er auf Anfrage zu diesem technischen Detail mit. Auch während des Umstellens werde eine Besetzung der Weiche erkannt.

Behörden ermitteln – und geben sich bedeckt



Die Einschätzung des Fachmanns spricht also eher gegen die Theorie einer technischen Sicherheitslücke, widerlegt sie aber auch nicht. Abzuwarten bleibt daher, was die behördlichen Untersuchungen letztlich ergeben. Wie berichtet haben die Bundespolizeiinspektion Nürnberg und BEU gemeinsam Ermittlungen aufgenommen – auch wegen des Verdachts des gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr. Eine Anfrage unserer Zeitung an die Bundespolizei Nürnberg zum aktuellen Sachstand stand bis Redaktionsschluss noch aus.

Gesicherte Erkenntnisse wird wohl erst das Untersuchungsergebnis der BEU liefern. Diese stuft den Reichertshausener Unfall derzeit als „gefährliches Ereignis“ ein. Zu möglichen Unfallursachen oder zur besagten Weichenkonstellation äußert sich ein BEU-Sprecher auf Anfrage aber ebenfalls nicht. „Die Untersuchungen in diesem Fall dauern noch an“, teilt er mit. „Ein konkretes Datum für das Ende der Untersuchungen kann derzeit nicht abgeschätzt werden.“ Laut Eisenbahn-Unfalluntersuchungsverordnung soll aber spätestens nach einem Jahr ein Untersuchungsbericht veröffentlicht sein.

PK