Ingolstadt
"Das musst du halt verdauen"

Das Büro als Schauplatz einer Geiselnahme

21.08.2018 | Stand 02.12.2020, 15:50 Uhr
Nachdenklich war Bürgermeister Sepp Mißlbeck im Gespräch über die Geiselnahme schon - doch er versicherte, dass ihn der Vorfall vor fünf Jahren nicht mehr belaste. −Foto: Eberl

Ingolstadt (DK) Vor fünf Jahren wurde Sepp Mißlbecks Büro zum Schauplatz einer Geiselnahme - ein Interview mit dem Bürgermeister über die damals bedrohliche Situation.

Herr Mißlbeck, vor fünf Jahren stürmte ein Mann am Morgen um 8.30 Uhr in Ihr Büro und bedrohte Sie, Ihre Vorzimmerdame, den Beschwerdemanager der Stadt und eine weitere Mitarbeiterin. Wissen Sie noch, was Ihnen damals als Erstes durch den Kopf ging?

Mißlbeck: Da kam mit meiner Vorzimmerdame voran ein junger Mann mit Kapuze und Trainingsjacke ins Zimmer. Damals gab es grade Ärger wegen der Ingolstadt Dukes, ich hab gedacht, das wäre das Thema. Mein erster Satz war deswegen: "Okay, wir reden gleich drüber, lasst's mir nur fünf Minuten." Dann hab ich den Mann aber genauer registriert, mit der Pistole in der einen Hand und dem Messer am Hals meiner Sekretärin. Sein erster Satz zur Begrüßung war: "Alter Mann, du bist der Erste, der eine Kugel im Kopf hat." Dann wird man natürlich schon ein bisschen unsicher. Ich habe dann gesagt: "Jetzt setzen wir uns erst mal hin".

Kurz darauf waren auch der Beschwerdemanager und dessen Sekretärin in seiner Gewalt?

Mißlbeck: Wir haben alles abgeben müssen. Schlüssel, Handys. Der tiefere Sinn von dem Mann war ja, dass er ein Gespräch mit dem Richter, der ihn verurteilt hatte, mit dem Anwalt, einem Psychiater und noch irgendeinem Gutachter und unserem Rechtsreferenten wollte, dass die ihm bestätigen, dass er zu Unrecht verurteilt worden ist. Ich habe dann zu ihm gesagt: "Pass auf, bis wir die alle beisammen haben, sitzen wir noch zwei Tage hier. Unser Oberbürgermeister ist der oberste Dienstherr dieser Stadt. Wir beide verfassen jetzt einen Brief, den schreibt die Sekretärin, ich übergebe den Brief dem OB und dann sehen wir, wie es weitergeht." Er meinte dann: "Hm, ja, okay."

Stunden vor diesem Gespräch hat er die zweite Sekretärin gehen lassen?

Mißlbeck: Sie war nervlich kaputt. Dann hab ich gesagt: "Lassen's das Mädchen raus, die bricht in der nächsten halben Stunde zusammen. Und dann kommt der Notarzt, dann wissen Sie nicht, ob der ein verkappter Polizist ist." Das hat er eingesehen. Das war in der ersten halben, dreiviertel Stunde.

Wie kam es, dass die Situation dort oben im zweiten Stock nicht eskalierte?

Mißlbeck: Es gibt da zwei Anekdoten: Nach fünf Stunden hat die Natur sich gemeldet. Dann hab ich vorgeschlagen: "Im Wandschrank hab ich ein Waschbecken, ich hab zwar Hemmungen, aber dann mach ich den Anfang." Das haben wir dann gemacht, jeder hat sich entledigt, auch für die Sekretärin haben wir eine Lösung gefunden. Irgendwie herrschte da dann eine menschliche Atmosphäre. Das zweite war: Wir hatten auch einen Laptop da. Ich hab gesagt, ich kenne mich nicht aus, und er war zuerst ganz sauer. Aber dann hat die Sekretärin das Laptop eingeschaltet und wir sind nah nebeneinander gesessen und haben verfolgt, was draußen alles passiert. Die Pistole hatte er aber immer in der einen Hand. Das musst du halt verdauen. Aber dann haben wir das mit dem Brief gemacht.

Der Geiselnehmer hat Sie gegen 14 Uhr mit dem Brief rausgelassen, man hat Sie danach aber nicht mehr hochgehen lassen?

Mißlbeck: Ja, aber da war schon die Angst da, dass der Geiselnehmer mit dem Mädchen irgendetwas anstellt. Die Polizei hat deswegen irgendwann mit einer Blendrakete geschossen, zwei Polizisten haben die Tür aufgeschossen, zwei andere auf seine linke Schulter gezielt - er war ja Linkshänder. Dann war's erledigt.

Wie war das, als Sie Ihre Sekretärin nach der überstandenen Geiselnahme wiedergesehen haben?

Mißlbeck: Ich hab dann gesagt: "Kumm, Madl, etz geh her! Wir zwei haben's überstanden" und hab sie gepackt und in den Arm genommen. Sie hat einen regelrechten Weinkrampf gekriegt - und dann war das okay. Dann war es heraus. Vorher oben war sie die ganze Zeit sehr diszipliniert.

Und wie haben Sie das verkraftet?

Mißlbeck: Meine Frau saß damals im Cafe 59, und die Leute haben gefragt: "Ja, Frau Mißlbeck, haben Sie denn gar keine Angst um Ihren Mann?" Und sie hat dann geantwortet: "Um den mache ich mir gar keine Angst, der redet den in Grund und Boden."

Sie waren aber doch auch stundenlang in den Händen eines Geiselnehmers und wussten nicht, dass seine Pistole nur eine Spielzeugwaffe war. Hat Ihnen das wirklich nichts ausgemacht?

Mißlbeck: Ich bin am nächsten Tag geschäftlich zu Daimler-Benz gefahren, weil es da Ärger gegeben hat. Da kam der Chef und sagte: "Bei dem, was der erlebt hat, können wir heute nicht übers Geschäft reden." Aber ich hab da nie ein Problem gehabt. Ich zeig Ihnen was (er entrollt ein großes Foto von einem völlig zerstörten Audi quattro): Da bin ich mit einem italienischen Lkw zusammengestoßen und hab mich sechsmal überschlagen. Das war vor gut 30 Jahren nachts auf der Autobahn runter nach München. Auf der Hügelkuppe, bevor man runterfährt nach Pfaffenhofen, war Wasser auf der Autobahn. Ich hatte die breiten Slicks drauf und bei 260 km/h war's das. Meine Frau hat das Auto gesehen und war dann drei Tage im Klinikum, weil sie einen Kreislaufkollaps gehabt hat. Mein Arzt hat zu mir gesagt: "Na, du bist doch pumperlgesund, schau, dass du wieder in die Arbeit kommst!" So verarbeite ich das.

Hat die Geiselnahme verändert, wie Sie in Termine gehen - oder Besuch empfangen?

Mißlbeck: Nein, null. Es sind ja normalerweise nur angemeldete Besuche. Und wenn mal schnell einer kommt, ein alter Schulkamerad, dann geht das auch. Und bei meiner Vorzimmerdame gibt es da auch keine Probleme, das ist vorbei. Ich glaube, da habe ich ihr diese Stärke zurückgegeben. Ich glaube, dass wir uns so gut verstehen, und meine Art, das Leben nicht so schwer zu nehmen, bestärkt sie. Sie hat auch einen sehr bodenständigen Mann, der ihr Kraft gibt. Zwischen uns ist es familiärer geworden. Ich nehme sie schon mal in den Arm und sage: "Pfundig hast du's gemacht."

Das Gespräch führte

Thorsten Stark.
EIN AUFREGENDER TAGEigentlich hätte an diesem 19. August 2013 Angela Merkel auf dem Ingolstädter Rathausplatz sprechen sollen - doch es kam ganz anders: Um 8.30 Uhr betrat ein damals 24-Jähriger das Alte Rathaus und nahm Bürgermeister Sepp Mißlbeck, dessen Sekretärin, den Beschwerdemanager sowie eine weitere Sekretärin als Geisel.

Seine Hauptzielscheibe war Mißlbecks Vorzimmerdame. Er kannte die damals 25-Jährige noch aus ihrer Tätigkeit beim Jobcenter, wo sie häufiger mit ihm zu tun hatte - irgendwann zu häufig: Das Landgericht Ingolstadt verurteilte ihn wegen Stalkings zu einer Bewährungsstrafe. Von seiner Geiselnahme erhoffte sich der Mann offenbar eine Rehabilitation, was sich natürlich ins Gegenteil verkehrte.

Nach neunstündigem Nervenkrieg beendete ein Spezialeinsatzkommando der Polizei die Geiselnahme - zwei Schüsse in die Schulter und ins Bein setzen den Mann schachmatt. Ein Jahr später wurde er - wiederum am Landgericht - zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und drei Monaten verurteilt. tsk