Ingolstadt
Ein Tag im August

Geiselnahme im Rathaus gilt als beispielloser Fall am Landgericht Ingolstadt

28.03.2018 | Stand 02.12.2020, 16:38 Uhr

Foto: Christian Rehberger

Ingolstadt (DK) 30 Jahre Landgericht: Als beispielloser Fall für Ingolstadt steht die Geiselnahme im Rathaus, als 2013 ein damals 25-Jähriger unter anderem Bürgermeister Sepp Mißlbeck über fast neun Stunden in seiner Gewalt hatte. Der folgende Prozess stellte die große Strafkammer wegen des Charakters des psychisch kranken Angeklagten auf eine Probe.

Es war der Tag, an dem Ingolstadt weit über die Stadtgrenzen wahrgenommen werden sollte. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sich angekündigt und wollte auf dem Rathausplatz sprechen. Es wurde dann der Tag, an dem sogar ganz Deutschland nach Ingolstadt schaute. Aber nicht wegen Merkel. Denn die kam gar nicht - wegen der Geiselnahme im Ingolstädter Rathaus, die den 19. August 2013 zu einem mehr als denkwürdigen Tag in der Geschichte dieser Stadt machte. Etwas mehr als ein Jahr später musste sich das hiesige Landgericht in einem spektakulären Prozess mit dem Geiselnehmer beschäftigen, der seine vier Geiseln und die Polizei über Stunden in Atem gehalten hatte.


Nach einem neunstündigen Nervenkrieg waren Spezialeinsatzkräfte in das Bürgermeisterbüro gestürmt und hatten den damals 25-jährigen Geiselnehmer "kampfunfähig geschossen". Mit Waffengewalt hatte dieser den Bürgermeister Sepp Mißlbeck, dessen Vorzimmerdame, den damaligen Beschwerdemanager der Stadt und dessen Beschäftigte festgehalten. Er löste damit einen in der Ingolstädter Nachkriegsgeschichte beispiellosen Aufmarsch von Polizeikräften in Gang. Fernsehteams und Journalisten eilten ebenso nach Ingolstadt und sendeten teilweise live.

Nach und nach sickerte an jenem Tag durch, was der Geiselnehmer wollte. Es klang ungewöhnlich: Die Stadt sollte ein Entschuldigungsschreiben für einen angeblichen sexuellen Missbrauch des 25-Jährigen durch dessen Vater liefern. Sie habe nichts dagegen getan. Zwar war der gebürtige Ingolstädter gar nicht in der Stadt aufgewachsen, aber dennoch sollten sich die Behörden rechtfertigen.

Das Rathaus als sein Ziel war bewusst gewählt: Seine Hauptgeisel war die Vertraute des Bürgermeisters, mit welcher der Geiselnehmer in ihrer früheren Funktion in einer städtischen Arbeitsvermittlungsstelle zwischenzeitlich sogar Freundschaft geschlossen hatte. Doch schon damals war alles eskaliert, denn der nachweislich psychisch Kranke mutierte zum kriminellen Stalker und hatte die junge Frau auch bedroht. Die Folge davon war ein erster Prozess im Juli 2013 gewesen - auch schon am Ingolstädter Landgericht, wo er nach der Geiselnahme natürlich wieder landen sollte. Die Strafe im Stalkingprozess: ein Jahr und acht Monate zur Bewährung. Für eine zwangsweise psychiatrische Behandlung reichte es nicht. Der damals 25-Jährige kam auf freien Fuß, flog aber kurz darauf wegen eines mutmaßlich sexuellen Übergriffs aus der städtischen Obdachlosenunterkunft und erhielt Hausverbot in allen städtischen Einrichtungen. Darunter natürlich auch die Rathäuser. Genau dort marschierte der 25-Jährige dann drei Wochen nach der Verurteilung mit einer täuschend echt aussehenden Pistolenattrappe und einem Messer bewaffnet auf und drängte um kurz vor 9 Uhr ins Bürgermeisterbüro. "Alter Mann, du bist der Erste, der heute eine Kugel in den Kopf bekommt", warf er Sepp Mißlbeck an den Kopf. Dann ging der Nervenkrieg los - bis zum Zugriff der Polizei, die den Geiselnehmer nach einem turbulenten Tag in den frühen Abendstunden nicht alleine mit der Vorzimmerdame lassen wollte. Ein Donnerhall durch das Zünden von Blendgranaten erfüllte die Innenstadt, als die SEK-Beamten das Büro stürmten und dann auf den Geiselnehmer schossen. Schütze Nummer 133, so der Deckname, feuerte fünf Mal aus seiner Maschinenpistole. Drei Kugeln trafen den Geiselnehmer in Hand und Schulter. Seine rechte Hand wird er als Folge davon nie mehr gebrauchen können. Das stach auch den Beobachtern ins Auge, als ein gutes Jahr später, am 23. September 2014, der Prozess begann und der junge Verbrecher in den Sitzungssaal und erstmals in die Sucher der Kameras und Objektive trat. Das Medieninteresse ist groß, wenn auch nicht ganz so, wie vielleicht angenommen. Während der erste Tag vor der 1. Strafkammer mit Landgerichtsvizepräsident Jochen Bösl noch sehr gesittet abläuft und ein aufgeräumter, redegewandter und intelligenter junger Angeklagter zum Vorschein kommt, nimmt sich der Geiselnehmer für andere Tage eine Eskalation vor. Er beschimpft den Staatsanwalt mit Kraftausdrücken und lässt auch sonst den Respekt für das Gericht und Zeugen (teils seine Opfer) vermissen. Er wirkt plötzlich, wie der energische Überzeugungstäter, der die Polizei und seine Geiseln in Atem gehalten hatte. Seine Opfer berichten dem Gericht in seinem Angesicht von Todesangst an jenem 19. August, glaubten stets, dass die Waffenattrappe eine scharfe Pistole war. Sie wollen alle nichts anderes, als von ihm für immer in Ruhe gelassen zu werden. Als der Geiselnehmer am siebten Verhandlungstag (vor der Aussage von Bürgermeister Mißlbeck) seinen Rauswurf aus dem Saal regelrecht provoziert und die Strafkammer mit der Prozessführung alle Hände voll zu tun hat, quittiert Richter Bösl das mit den Worten: "Der Gutachter und wir haben das genau registriert."

Denn als zentraler Punkt in dem Prozess steht die Frage, ob der eben nachweislich psychisch kranke Angeklagte derart gefährlich ist, dass er dauerhaft in eine geschlossene Einrichtung müsste. Doch letztlich sind die rechtlichen Hürden dafür zu hoch. Die vom Gericht bestellten Gutachter legen sich auf "eine schwere dissoziale Persönlichkeitsstörung" fest. Im Rathaus aber sei der Geiselnehmer immer Herr der Lage gewesen. Er sei voll schuldfähig, so die Experten.

Das Gericht übernimmt diese Einschätzung natürlich und verhängt letztlich acht Jahre und drei Monate Gefängnis, was der Verurteilte ungerührt zur Kenntnis nimmt. Das Urteil wird dann auch in der Wochenfrist rechtskräftig. Der Geiselnehmer kommt also in absehbarer Zeit wieder frei. Danach steht er aber noch für fünf Jahre unter Führungsaufsicht und darf sich den Geiseln nie mehr nähern. "Mehr können wir nicht machen", sagt Richter Bösl. Er warnt den Verurteilten aber: Sollte der irgendwann eine auch nur annähernd vergleichbare Tat begehen, "dann ist die Sicherungsverwahrung so gut wie sicher".