Tarifrunde im Öffentlichen Dienst
Beschäftigte demonstrieren vor Stadtratssitzung: Emotionale Berichte über Personalnot

28.02.2023 | Stand 17.09.2023, 1:51 Uhr

Rund 100 Kolleginnen und Kollegen aus dem Öffentlichen Dienst versammelten sich am Dienstag kurz vor Beginn der Stadtratssitzung am Theater zu einer Kundgebung. Es nahmen auch viele Pflegekräfte teil. Die Gewerkschaft Verdi hatte dazu aufgerufen. Foto: Silvester

Da stehen sie. Vor dem Stadttheater. Mit Fahnen. Vereint, entschlossen, volltönend. Nicht zu übersehen und auch nicht leicht zu übergehen: Kolleginnen und Kollegen aus dem Öffentlichen Dienst. Viele arbeiten in Pflegeberufen, leiden unter der Personalnot. Die meisten gehören zur Einkommensmittelschicht. Die Inflation setzt ihnen zu. Sie fordern ein Gehalts-Plus von 10,5 Prozent, mindestes 500 Euro mehr pro Monat. Auf einem Schild steht: „Zahlen statt klatschen!“

Doch die große Mehrheit der Stadtratsmitglieder läuft an diesem eiskalt-sonnigen Nachmittag auf dem Weg zur Sitzung im Theater an der Verdi-Kundgebung vorbei. Nur wenige bleiben kurz mal stehen.

Viele Stadtratsmitglieder beachten Kundgebung nicht

Denn der Anlass der Streik-Demonstration ist ebenso brisant wie unangenehm. Steigen die Löhne und Gehälter deutlich, kommen auf die Kommunen mit ihren (meist) stark belasteten Etats zusätzliche Ausgaben in erheblichem Ausmaß zu. Das wissen jene Lokalpolitikerinnen und Lokalpolitiker, die hier unübersehbar die De-monstration umgehen.

Aus den Lautsprechern tönen emotionale Berichte über den Pflegenotstand wegen des Fachkräftemangels und andere belastende Arbeitsbedingungen. Hier stehen Frauen und Männer aus dem Ingolstädter Klinikum mit einem Warnhinweis auf Pappe: „Streikbereit!“ Andere kommen aus der Klinik Eichstätt, von der Lebenshilfe, aus weiteren Sozialeinrichtungen oder vom kommunalen Freizeitsektor. Mit den derzeitigen Konditionen „finden wir kaum noch Nachwuchs“, erzählt eine Bäder-Mitarbeiterin. „Denn wer will schon arbeiten, wenn andere freihaben?“

Das Ringen um die Fachkräfte drohe auch die Bundeswehr abzuhängen, sagt ein Mitarbeiter der Wehrtechnischen Dienststelle 61. „Bei uns haben heuer schon sieben Kollegen gekündigt.“ Alle hätten besser bezahlte Jobs in der Luftfahrtindustrie gefunden; dort sei ein 14. Monatsgehalt Standard.

Ein Angestellter im Gesundheitsbereich erzählt am Mikro, es sei noch gar nicht lange her, dass fertig ausgebildete Pflegekräfte nicht übernommen worden seien. Da wird es abermals laut in der rund 100 Personen großen Demonstrantenschar. Heute kann sich derlei wirklich keiner mehr vorstellen.

Der einzige Stadtrat, der bis zum Schluss an der Kundgebung teilnimmt, ist Achim Werner (SPD). Die Gewerkschafterin Arina Wolf bittet ihn spontan um einen Redebeitrag. Das tut er. Nach der obligatorischen Solidaritätsbekundung („Eure Forderungen sind berechtigt!“) muss er mitteilen, dass sich der Stadtrat anschließend nur kurz mit den Tarifverhandlungen befassen werde. Unmut in der Menge. Das mag hier niemand hören.

SPD-Fraktion zeigt sich in der Tariffrage gespalten

Dann muss Werner weiter. Ins Stadttheater. Zur Sitzung des Stadtrats. Mitten hinein in ein politisches Dilemma. Denn auch seine SPD ist in der 10,5-Prozent-plus-Frage gespalten. Das wird jetzt zu erleben sein.

OB Christian Scharpf (SPD) hat einen Eilantrag der Linken auf dem Tisch. Sie fordern, dass sich der Stadtrat mit einer Resolution für die Anliegen der Beschäftigten einsetzt. Daraus wird aber nichts. „Das ist rechtlich unzulässig“, lässt der OB wissen. „Der Stadtrat darf sich innerhalb regulärer Sitzungen nicht zu allgemeinen politischen Themen äußern.“ Er erinnert daran, dass die Arbeiterbewegung einst die Tarifautonomie „als vornehmes Recht erkämpft hat“, damit, wenn’s ums Geld geht, „sich der Staat nicht einmischt“.

Scharpf bekennt allerdings: „Hier schlagen zwei Herzen in meiner Brust.“ Es gehe um Menschen, die „unverzichtbare Arbeit leisten“ und unter der Inflation besonders litten. Es folgt sein Aber: „Ich muss auch den Haushalt der Stadt im Blick behalten.“ Deshalb stellt er den Antrag auf Nichtbefassung mit dem Antrag der Linken.

„Das ist sehr schade“, erwidert Linken-Stadträtin Eva Bulling-Schröter. „Es geht uns um die Debatte, gerade weil die Situation so schwierig ist!“ Als sie weiterspricht, wird sie vom OB unterbrochen. „Denn jetzt diskutieren wir schon inhaltlich.“

Für die Resolution stimmen neben Bulling-Schröter und Christian Pauling (Linke) noch Achim Werner und Christian De Lapuente von der SPD. Alle anderen lehnen den Antrag ab.

Thema beendet. Am 8. März wird im Öffentlichen Dienst das nächste Mal gestreikt.

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