Mit
Dietrich Thurau: "Mit Zuckerwasser fährt kein Spitzenmann"

Der ehemalige Radprofi Dietrich Thurau über seine Zeit bei der Tour de France und die Dopingpraktiken

05.01.2012 | Stand 03.12.2020, 1:58 Uhr

 

Mit 22 Jahren löst Dietrich Thurau 1977 einen unbeschreiblichen Tour-Taumel in Frankreich und Deutschland aus. Der legendäre Tour-Direktor und „L’Equipe“-Chefredakteur Jacques Goddet schwärmte über Thurau als „blonder Engel“. Nach dieser Tour wurde es allerdings ruhig um Thurau. In unserem Interview erinnert er sich an seine Zeit als Radprofi und nimmt Stellung zu seiner Dopingvergangenheit.

Denken Sie noch oft an dieses sensationelle Jugenderlebnis in Gelb?

Dietrich Thurau: Ich werde jeden Tag in meinem Büro daran erinnert. Hier hängen das Bild eines holländischen Malers, signiert mit „Joop 77“, der mich während meiner ersten Tour auf dem Rad gemalt hat, und eingerahmt natürlich das Gelbe Trikot. Es war ein aufregendes Jahr für einen so jungen Kerl. Fast wäre ich ja auch noch Straßenweltmeister geworden, war aber im Endspurt in Venezuela der Routine Francesco Mosers unterlegen. Dann wurde ich auch noch von den deutschen Journalisten zum „Sportler des Jahres“ gewählt. Eigentlich zu viel auf einmal für einen einfachen Frankfurter Bub.

 

Auf diese 64. Tour de France fiel der Schatten des Dopings so dunkel wie noch nie zuvor. Zwei Stunden dauerte es, bis der Träger des Gelben Trikots, Bernard Thevent, auch als Sieger bestätigt wurde. Der Franzose stand unter massivem Dopingverdacht und hat nach dem Ende seiner Karriere zugegeben, auch bei seinem zweiten Tour-Sieg Cortison gespritzt zu haben. Wie denken Sie heute darüber?

Thurau: Dass ich die Tour vielleicht hätte gewinnen können, wenn auch ich etwas Verbotenes genommen hätte. Ich schluckte nur Vitaminpillen. Mit meinem Masseur Ruud Bakker, einem Freund bis heute, haben war damals vor dem Tourstart diskutiert, ob wir zu wirklich harten Mitteln greifen sollen. Wir haben es nicht getan. Diese Tour bin ich sauber gefahren und habe dann beim Anstieg nach Alpe d’Huez die bittere Erfahrung gemacht: Nur mit Zuckerwasser fährt bei der Tour kein Spitzenmann diese Rampen hoch. Ich habe mich furchtbar gequält, wollte sogar aufgeben und verlor auf Thevenet zwölf Minuten.

 

Und danach haben Sie’s gemacht wie alle anderen?

Thurau: Einem jungen Fahrer blieb gar keine andere Wahl, wenn er vorne mitfahren wollte. Einmal bin ich positiv getestet worden, bei meiner letzten Tour 1987. Nur waren die Mittel, Amphetamine, Cortison, Testosteron, damals harmlos, verglichen mit Epo und systematischem Blutdoping. Dieses System ist schlimm und kann für einen jungen Fahrer lebensgefährlich sein. Als mein Sohn Björn mit 18 Jahren Profi wurde, habe ich aus Sorge als Vater ihn eindringlich gewarnt: „Lass bloß die Finger davon.“ Der strikte Anti-Doping-Kampf ist daher ganz in meinem Sinn.

 

Nach ihrer grandiosen Tour 1977 war die ganze Radsportwelt davon überzeugt, dass Sie der erste deutsche Tour-Sieger werden würden. Stattdessen ging es mit ihrer Straßenkarriere bis auf einen weiteren zweiten WM-Platz und einen Klassiker-Sieg, Lüttich-Bastogne-Lüttich, bergab. Warum?

Thurau: Ich habe viele Fehler gemacht. Ich hätte zum Beispiel das Raleigh-Team meines Mentors Peter Post nicht verlassen dürfen. Der größte Fehler waren die vielen Sechstagerennen, manchmal 15 in einem Winter. Ich war über Nacht zum Radstar geworden und im Gegensatz zu vielen großen Straßenfahrern ein geübter Bahnfahrer. 1974 war ich mit dem Bahnvierer Gustan Kilians Weltmeister geworden. Die Sechstageveranstalter haben mir die Bude eingerannt. Für mich lag das Geld unter den damaligen Verhältnissen nicht auf der Straße, sondern auf der Bahn. Ich habe dreißig Sechstagerennen gewonnen. Als ich Jan Ullrich 1997 zum Toursieg gratulierte, habe ich ihn gewarnt: „Jan, fahre nie Sechstagerennen!“

 

Ihr Sohn ist zu einer Zeit Profi geworden, in der der Radsport in Deutschland wegen all der Dopingskandale geächtet wird. Glauben Sie, dass der Radsport eine Chance hat, hierzulande wieder hoffähig zu werden?

Thurau: Dazu müsste – keine neuen Dopingfälle vorausgesetzt – ein Fahrer etwa mit dem sauberen Leumund eines Tony Martin die Tour gewinnen. In Deutschland zählt nur die Tour, nicht Martins Weltmeistertitel im Zeitfahren, um die deutschen Medien und damit Sponsoren und Öffentlichkeit wieder für den Radsport zu begeistern. Leider hat Martin als exzellenter Zeitfahrer zu viel Muskelmasse fürs Hochgebirge und damit für einen Toursieg.

 

Was ist von Ihrem Sohn Björn noch zu erwarten?

Thurau: Er ist seinen eigenen Weg gegangen. Gegen den Ratschlag seines Vaters, nicht so früh und in diesen schwierigen Zeiten allein alles auf eine Profikarriere zu setzen. Tony Martin hat es vorbildlich gemacht: Abitur, abgeschlossene Berufsausbildung als Polizeimeister. Björn ist jetzt 23, im fünften Jahr erfolgloser Profi. Er hat jetzt das Glück und die letzte Chance beim französischen Team „Europacar“ mit Thomas Voeckler als Kapitän. Teamchef ist mein alter Bekannter aus gemeinsamen Rennjahren, Jean-René Bernaudeau. Neben einer eindrucksvollen Leistung im Spätsommer bei einem Etappenrennen in Frankreich war wohl auch der Name Thurau für den Vertrag hilfreich. Vielleicht schafft es Björn, im Sommer ins Tour-Team zu kommen, wenn er diesmal auf meinen Rat hört: Lerne Französisch und ziehe in die Gegend von Nantes, wo das Team zu Hause ist.

 

Und was ist mit Ihrem zweiten Sohn Urs?

Thurau: Seit der Scheidung vor sechs Jahren bin ich in unserem Haus bei Zürich alleinerziehender Vater. Mit Urs gehe ich gemeinsam den Weg mit dem Ziel Wimbledon. Unser gemeinsames Leben ist Tennis. Nach meiner Karriere bin ich nicht mehr Rad gefahren, sondern habe nur noch Tennis gespielt, um fit zu bleiben. Urs hat sich nach einem schweren Sturz und all den Dopingskandalen mit acht Jahren für Tennis entschieden. Ich trainiere ihn seitdem täglich bis zu fünf Stunden, begleite ihn zu allen Turnieren und in die Tenniscamps, in der Schweiz von Roland Stadler, in die Hofsäss-Tennis-Akademie in Spanien oder derzeit in München bei Markus Zoeke, wo er mit gestandenen Profis trainiert. Urs ist 17, hat die Realschule abgeschlossen und tut alles für eine Tenniskarriere. Er hat Talent, Ehrgeiz und schon Erfolge.

 

Das dürfte eine kostspielige Angelegenheit sein. Darf man fragen, wovon Sie leben? Immerhin mussten Sie vor elf Jahren mit Ihrer Immobilienfirma in Frankfurt Insolvenz anmelden.

Thurau: Ich bin neben Tennistrainer auch immer noch Immobilienkaufmann. Björn bei der Tour, Urs in Wimbledon, kann es für einen Vater wie mich schönere Ziele geben?