Interview des Monats
Florian Kehrmann: "Die schlechteste Party war die nach dem EM-Titel 2004"

15.01.2021 | Stand 23.09.2023, 16:27 Uhr
 Florian Kehrmann −Foto: Uwe Anspach/dpa

15 Jahre Bundesliga, 11 Jahre Nationalmannschaft und als Trainer den TBV Lemgo Lippe stabilisiert: Florian Kehrmann war das Gesicht des deutschen Handballs auf Rechtsaußen und ist der einzige Spieler der Goldenen Generation, der derzeit einen Bundesliga-Verein trainiert. Der 43-Jährige erlebte aber auch die dunklen Seiten des Klubhandballs.

 

Herr Kehrmann, Sie gehörten der Goldenen Generation um Stefan Kretzschmar, Henning Fritz, Markus Baur, Christian Schwarzer und Pascal Hens an, der man nachsagt, nicht nur gut Handball gespielt zu haben, sondern auch erstklassig beim Feiern gewesen zu sein. Was war die beste Party mit dem Nationalteam?

Florian Kehrmann: Da ist es schwer, ins Detail zu gehen (lacht). Die schlechteste Party war auf jeden Fall die nach der EM 2004, bei der wir Europameister geworden sind. Da gab es nur ein langweiliges Bankett, und am nächsten Morgen sind wir früh heimgeflogen. Klar gab es genügend Feiern, aber das wird oft etwas falsch dargestellt. Wir waren keine reine Feier-Generation, auch wenn Stefan (Kretzschmar, Anm. d. Red.), da ein bisschen außen vor ist.

Was hat dieses Team, das bei vielen Turnieren ins Finale gekommen ist, 2004 auch Olympia-Silber und 2007 den WM-Titel gewonnen hat, so stark gemacht?

Kehrmann: Ab dem Jahr 2000 gab es viele international gefestigte Spieler. Das war das Grundgerüst, und es sind immer wieder ein, zwei junge Spieler mit besonderen Fähigkeiten dazugekommen. Irgendwann reichte das, damit wir um große Titel mitspielen konnten. Dass wir uns auch privat sehr gut verstanden haben, war ausschlaggebend dafür, dass wir als Team besser funktioniert haben.

Lange Zeit hat mit Markus Baur, Daniel Stephan, Volker Zerbe, Christian Schwarzer, Christian Ramota und Ihnen ein Großteil der Nationalmannschaft beim TBV Lemgo gespielt.

Kehrmann: Ich kam 1999 zum TBV, da war die Mannschaft mit Spielern wie Volker Zerbe oder Marc Baumgartner, die internationale Klasse hatten, zwei Jahre zuvor Meister geworden. Das waren Idole, das war etwas ganz Besonderes. Danach kamen noch Markus Baur und Christian Schwarzer, und so hat sich das dann aufgebaut. Wir haben in den Jahren danach immer um die Meisterschaft mitgespielt.

Obwohl der TBV Lemgo immer oben dabei war, sprang am Ende nur eine Meisterschaft dabei heraus. Hat diese top-besetzte Mannschaft zu wenig aus dem Potenzial gemacht?

Kehrmann: Im Jahr 2003 sind wir überlegen Meister geworden (mit 62:6 Punkten, zum damaligen Zeitpunkt Rekord, Anm. d. Red.). Aber es gab mit Kiel, Flensburg-Handewitt und Magdeburg auch andere starke Teams. 2001 und 2002 sind wir ganz knapp und erst kurz vor Schluss gescheitert. Ein bisschen traurig ist es schon, dass wir nicht noch mehr erreicht haben. Auch mit der Nationalmannschaft haben wir ein paar Titel knapp verpasst. Aber bis auf Olympia-Gold habe ich alles gewonnen, bin Europameister und Weltmeister geworden. Das ist ja auch was.

Mit dem TBV Lemgo war Ihr erster Bundesliga-Verein direkt ein Spitzenteam. Wie früh hatten Sie den Plan einer Profikarriere?

Kehrmann: Jedes Kind träumt davon, die eigene Sportart als Profi zu betreiben. Aber bei mir hat sich das mit der Zeit entwickelt, ich hatte mit zwölf Jahren noch nicht den konkreten Plan, Profi zu werden. Auch mit 15, 16 Jahren war das gar nicht so das Thema. Ich war immer ehrgeizig, und weil meine Eltern auch Handball gespielt haben, war ich schon als kleines Kind viel in der Sporthalle. Aber ich habe auch andere Sportarten betrieben. Im Jahr 1994 bin ich zum Ende der B-Jugend zum TuSEM Essen gewechselt und hatte schnell Erfolg.

Dort wurden Sie Deutscher A-Jugendmeister.

Kehrmann: Genau. Mein Jugendtrainer war Bob Hanning, der war damals schon als Jugendförderer bekannt. Er hat mich in der A-Jugend auch zum Leistungssport geführt. Mit ihm bin ich 1995 zu Sportring Solingen-Höhscheid gewechselt. Wir sind direkt im ersten Jahr von der dritten in die zweite Liga aufgestiegen.

In der Bundesliga war und ist Hanning als Trainer oder Geschäftsführer ein Konkurrent. Wie ist Ihr Verhältnis?

Kehrmann: Das war und ist immer sehr freundschaftlich. Bob war auch in meiner Zeit als Nationalspieler Co-Trainer beim Deutschen Handballbund (von 1997 bis 2000, Anm. d. Red.). Wir sind auch danach immer in Kontakt geblieben.

Nach Ihrem Wechsel zu Lemgo haben Sie bis zu Ihrem Karriereende 2014 bei keinem anderen Verein mehr gespielt. Als Handballer des Jahres 2003, 2005 und 2006 erhält man doch bestimmt lukrative Angebote.

Kehrmann: Natürlich gab es zu verschiedenen Zeitpunkten Angebote, auch aus dem Ausland. Es gab ein paar Situationen, in denen es auf der Kippe stand, dass ich den Verein wechsle.

Warum sind Sie dennoch 15 Jahre geblieben?

Kehrmann: Bis 2004 hatten wir fast die komplette Nationalmannschaft in Lemgo, da gab es keinen Grund wegzugehen. Dann kam der Umbruch, aber ich hatte das Ziel, den Umbruch mitzugestalten. Außerdem stand die Heim-WM 2007 an, deswegen wollte ich nicht ins Ausland wechseln. 2007/2008 hatten wir eine gute Mannschaft, haben aber nicht den letzten Schritt hinbekommen, ein Meisterschaftskandidat zu werden. Danach kamen Probleme, der Verein geriet in finanzielle Not, weil ein Großsponsor ausgestiegen war, und die Mannschaft ist auseinandergebrochen. Aber ich wollte das sinkende Schiff nicht verlassen, ich habe mich in Lemgo immer sehr wohlgefühlt.

Wie wichtig ist Ihnen Vereinstreue?

Kehrmann: Sehr wichtig. Ich habe es immer geschafft, die Vereine so zu verlassen, dass ich später ein gern gesehener Gast war. Das war bei meinem Heimatverein HG Büttgen so, dass ich ohne Streit gegangen bin, und auch in Solingen war keiner sauer, dass ich den Schritt in die Bundesliga machen wollte.

Wie nahe ging Ihnen dann die Talfahrt des TBV Lemgo?

Kehrmann: Es gab ein, zwei Jahre, da ging es um die Existenz des Vereins (2011 bis 2013, Anm. d. Red.). Der Verein war kurz davor, insolvent zu sein. Natürlich nimmt einen das mit, wenn man lange um Titel mitspielt und dann gegen den Abstieg kämpft. Aber wie sagt man so schön? Man hält in guten wie in schlechten Zeiten zusammen, das habe ich auch immer gelebt. Wenn man viel vom Verein bekommt, will man auch etwas zurückgeben. In der Hauptzeit haben die Spieler auf Gehalt verzichtet, sonst wäre der Verein damals pleitegegangen.

Wie kam es zu Ihrem nahtlosen Übergang von der Spieler- zur Trainerkarriere?

Kehrmann: Ich habe mich relativ früh in alles reingelesen, was mit Handball zu tun hat. Im vorletzten Jahr meiner Spielerkarriere war ich dann Co-Trainer der A-Jugend in Lemgo, in meinem letzten Jahr als Spieler, also in der Saison 2013/14, habe ich die zweite Mannschaft in der dritten Liga trainiert.

Von der Goldenen Generation sind Sie der Einzige, der aktuell einen Bundesligisten trainiert.

Kehrmann: Es gibt in der Bundesliga aktuell 20 Jobs, das ist ja auch in Ordnung, dass die nicht alle an die Goldene Generation gehen. Außerdem sind ja viele dem Handball erhalten geblieben. Torsten Jansen ist Trainer des HSV Hamburg (aktuell Tabellenführer der zweiten Liga, Anm. d. Red.), Christian Schwarzer arbeitet beim Handball-Verband Saar, Markus Baur hat lange in der Bundesliga trainiert, Klaus-Dieter Petersen ist beim THW Kiel und beim DHB als Jugendtrainer aktiv, und Volker Zerbe ist Sportkoordinator bei den Füchsen Berlin. Das Trainerdasein ist auch nicht für jeden was. Manche sind als Experten tätig.

Zum Beispiel Pascal Hens und Stefan Kretzschmar, der wohl immer noch der bekannteste Handballer ist, obwohl er beim EM-Titel 2004 und beim WM-Titel 2007 im Gegensatz zu Ihnen nicht dabei war. Was halten Sie von der Diskussion, dass der Handball mehr Typen braucht?

Kehrmann: Das ist auf jeden Fall ein Entwicklungsfeld, keine Frage. Aber ich halte nichts davon, Personen in Rollen zu drängen, die sie nicht sind. Die Typen müssen authentisch sein. Kretzschmar hatte immer eine freche Schnauze und war der verrückte Typ. Der muss sich nicht verstellen. Bob Hanning ist auch ein Typ, der viele Kritiker hat, der polarisiert. Aber er bringt dem Handball zum einen Öffentlichkeit und zum anderen auch Erfolge wie den EM-Titel 2016. Es braucht Typen, die herausstechen. Aber das muss sich entwickeln, man kann diese Typen nicht erfinden.

Wie war das bei Ihnen?

Kehrmann: Gerade als wir Weltmeister wurden, war ich auch viel in der Öffentlichkeit. Aber bei mir gab es immer Grenzen. Private Sachen wollte ich nie preisgeben. Für manche Sachen war ich zu haben, andere Dinge habe ich nicht gemacht. So wie Pascal Hens wäre ich bei "Let's Dance" wahrscheinlich nicht aufgetreten. Aber Pommes (Hens' Spitzname, Anm. d. Red.) hat das mit Überzeugung gemacht, und das hat dem Handball Presse gegeben. Das ist positiv rübergekommen.

Neben Ihren DHB-Teamkollegen haben Sie auch mit Weltklasse-Spielern wie den frischgebackenen Champions-League-Siegern Filip Jícha und Hendrik Pekeler zusammengespielt. Wer war Ihr bester Mitspieler?

Kehrmann: Von den ganzen Ausnahmekönnern einen hervorzuheben, ist schwierig. Eines konnte man aber bei allen beobachten: Die haben alle unglaublich ungern verloren. Egal, ob beim Fußball zum Aufwärmen oder beim Skat in der Kneipe, sie hatten alle einen großen Siegeswillen. Das ist der Unterschied zwischen einem Weltklasse-Spieler und einem durchschnittlichen Bundesliga-Spieler. Der Mitspieler, den ich am meisten geschätzt habe, war Christian Schwarzer.

Was hat ihn ausgemacht?

Kehrmann: Er war nicht nur ein Sporttalent, sondern er hat Werte wie Mannschaftszusammenhalt auch vorgelebt. Auch heute hält er die Jungs im Ehemaligen-Team für Benefizspiele zusammen. Das imponiert mir.

Der Nationalmannschaft fehlen jetzt bei der WM in Ägypten Stützen wie Pekeler, Patrick Wiencek, Fabian Wiede oder Steffen Weinhold. Kann dennoch ein Team zusammenwachsen?

Kehrmann: Auf diesem Niveau entscheiden Kleinigkeiten. Auf einmal springt ein Spieler in die Bresche, der bisher im Hintergrund war, übernimmt eine andere Rolle und macht das Gebilde stärker. Das hat man vor der EM 2016 gesehen, als kurz vor dem Turnier ein paar Spieler weggebrochen waren und das Team noch besser funktioniert hat. 2004 hatte sich vor der EM Stefan Kretzschmar verletzt, und uns hatte eigentlich keiner auf der Rechnung. Aber wir sind Europameister geworden. Das ist es, was den Teamsport interessant macht: Nicht der einzelne Spieler ist entscheidend, sondern wie man als Mannschaft zusammenspielt.

 

Christian Missy