Interview des Monats
Als erste Frau wanderte sie allein von der Antarktisküste zum Südpol: Extremsportlerin Anja Blacha erzählt

"Frauen kommen ernsthafter an den Berg"

25.06.2021 | Stand 04.07.2021, 3:33 Uhr
  −Foto: privat/Dawna Müller

Auf ihren ersten Berg ist Anja Blacha erst vor acht Jahren gestiegen - inzwischen stand die gebürtige Westfälin auf den höchsten Gipfeln aller Kontinente, erklomm zweimal den Mount Everest und als erste Deutsche den K2. Ihr größtes Abenteuer bestand die 31-Jährige jedoch am Südpol, den sie nach zwei Monaten Solotour auf Skiern erreichte.

 

Frau Blacha, wir erreichen Sie in Kathmandu, Nepal. Welche Expedition führt Sie dorthin?

Anja Blacha: Ich war noch mal auf dem Mount Everest, diesmal auf der Südseite. Am 31. Mai war ich oben, wir haben das allerletzte Wetterfenster der Saison genutzt. Dann ist man noch kurz im Basislager, ehe es zurück nach Kathmandu geht. Dort bin ich jetzt und warte auf den Rückflug in die Schweiz.

Waren Sie Teil der Menschenschlange am Anstieg, deren Bild jüngst durch die Medien ging?

Blacha: Nein, ich war mit einem Sherpa allein am Gipfel. An dem Tag gab es keinerlei Menschenschlangen. Es waren inklusive mir 38 Menschen am Gipfel.

Solche Gänsemarsch-Bilder täuschen darüber hinweg, dass am Everest Hunderte Menschen gestorben sind und viele Leichen noch am Wegesrand liegen. Haben auch Sie es erlebt, dass Leute aus Ihrer Expedition es nicht geschafft haben?

Blacha: 2017 ist ein Bergsteiger aus einem anderen Team gestorben. Natürlich weiß man, dass dort Menschen sterben. Aber das war der erste Moment, in dem ich persönlich damit konfrontiert wurde. Es war jemand, der sich trotz mehrerer Hinweise dazu entschieden hatte, immer weiter zu gehen und nicht auf seinen Körper zu hören. Als er entschieden hat, dass es nicht mehr geht, war es schon zu spät, man konnte ihn nicht mehr retten. In diesem Mai ist ein ehemaliger Arbeitskollege von mir am Everest verstorben. Als ich nach einer Akklimatisierungsrotation auf den Südsattel wieder abgestiegen bin, war er im Aufstieg. Wir sind uns noch begegnet und haben uns kurz ausgetauscht, da war noch alles super. Am nächsten Tag bekam ich dann die Nachricht, dass er auf dem Südgipfel verstorben ist.

Wie gehen Sie persönlich mit der ständigen Gefahr um?

Blacha: In solchen Momenten rückt der Tod näher. An dem Tag, als ich den Gipfel erreicht habe, hat ein Rettungsteam seine Leiche geborgen. Ich bin also noch zweimal an seiner Leiche vorbeigegangen. Auch als ich in Lukla in den Helikopter eingestiegen bin, der mich zurück nach Kathmandu gebracht hat, wurde er eingeladen. Das macht schon nachdenklich. Aber ich bin bereit, das Risiko einzugehen, und treffe Vorkehrungen, damit möglichst nichts passiert. Verglichen mit dem Mont Blanc, dem Matterhorn oder den Skipisten sterben am Everest gar nicht so extrem viele Menschen.

Brenzlige Situationen kann man jedoch auch mit der besten Vorbereitung nicht ausschließen: Sie hatten bei Ihrer jüngsten Expedition mit Zyklonen und einer gefährlichen Lawine zu kämpfen.

Blacha: Ein Zyklon hatte sehr viel Schnee mitgebracht, sodass hohe Lawinengefahr herrschte. Wir hatten deshalb extra den Aufstieg zum besonders exponierten Camp 3 ausgesetzt. In der Nacht bin ich dann aufgewacht, weil mein Zelt sich auf mein Gesicht und meine Brust gedrückt hat. Das war ein ordentlicher Schreck, weil ich nicht wusste, ob das der Anfang oder das Ende der Lawine war. Ich konnte das Zelt aber recht schnell hochdrücken. Die Lawine hat einiges im Camp zerfetzt, aber es ist niemand zu Schaden gekommen. Ich hatte Glück, dass bei mir nur Zeltstangen gebrochen waren. Die dicken Metallstangen des Küchenzelts waren komplett verbogen. Insgesamt waren die Wetterbedingungen in dieser Saison nicht ideal.

Warum ist der Abstieg gefährlicher als der Aufstieg?

Blacha: Einige verlieren den Fokus, der Druck lässt nach. Es ist auch eine Frage der Ressourcen, wenn zum Beispiel der Flaschensauerstoff ausgeht. Es gibt auch Bergsteiger, die Fehler am Gipfel machen, dort lange verweilen und für Sponsoren oder sich selbst Fotos ohne Sonnenbrille machen. Dann kann man schneeblind werden. Auch rutscht man beim Abstieg schneller ab.
Sportlich waren Sie immer, zum Beispiel als Fechterin. Doch auf Ihren ersten Berg sind Sie erst 2013 gestiegen. Haben Sie bei der Wanderung mit Ihrer Schwester nach Machu Picchu in Peru gemerkt, dass das Ihr Ding ist?

Blacha: Als Bergsteigen würde ich das nicht bezeichnen, das ist wie eine längere Wanderung im Schwarzwald auf etwas höherer Höhe. Aber mir hat es getaugt, draußen aktiv zu sein. Das war anders als Strandurlaub, wo man sich alle halbe Stunde von links nach rechts dreht (lacht).

Wenig später haben Sie den Aconcagua bestiegen, den mit 6961 Metern höchsten Berg Südamerikas. War es Ihnen zu langweilig, zunächst die Alpen zu erkunden?

Blacha: Für mich hatte immer das Land die erste Priorität. Erst dann habe ich geschaut, was man da machen kann. Ich wollte nach Argentinien, so bin ich auf den Aconcagua gestoßen. Bei einem Berg gibt es verschiedene Faktoren. Zum einen die Höhe, womit mein Körper sehr gut klarkommt. Dann noch die technische Schwierigkeit der Route. Die Eiger Nordwand ist zum Beispiel nicht annähernd so hoch wie der Aconcagua, aber viel anspruchsvoller.

Die für die Ausdauer- und Extremsportszene so typische Exzentrik strahlen Sie nicht aus. Was treibt Sie an?

Blacha: Am Anfang stand das Reisen, neue Ziele zu entdecken und aktiv zu sein. Sonst arbeite ich ja am Schreibtisch. Dann bin ich jemand, der gerne Ziele erreicht. Ich kann mich viel weniger motivieren, immer nur um den Block zu laufen, als ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Und was ist greifbarer als ein Berggipfel oder der Südpol? Was mir auch gefällt, ist, dass man unterschiedliche Menschen und Lebensweisen kennenlernt. Das ist sehr inspirierend.

Motiviert es Sie auch, das alles als Frau in einer männerdominierten Szene zu schaffen?

Blacha: Am Anfang war das tatsächlich so. Bei meiner ersten Everest-Expedition wurde ich als Einzige aus meinem Team gefragt, wie hoch ich es denn schaffen wolle. Als ich sagte, dass ich bis auf den Gipfel will, war der eine oder andere erstaunt. Ich habe aber das Gefühl, dass in den jüngeren Jahren zunehmend mehr Frauen unterwegs sind.

Sind Frauen aus Ihrer Sicht vernünftiger und planen besser?

 

Blacha: Tendenziell schon. Es sind eher die Frauen, die qualifizierter und ernsthafter an den Berg kommen. Denen fällt auch kein Zacken aus der Krone, zu sagen, dass sie anhalten und die dicke Jacke anziehen müssen. Bei der "Last Degree"-Expedition, wo man den letzten Breitengrad zum Südpol laufen kann, musste jemand drei Kilometer vor dem Ziel wegen Unterkühlung geborgen werden. Weil er sich in seiner Männer-Rugby-Gruppe nicht getraut hatte zu sagen, dass er die dicke Jacke braucht. Ich habe das auch selbst am Denali (höchster Berg Nordamerikas, d. Red.) erlebt. Die Männer in meiner Gruppe haben sich niemals getraut, nach einer Pause zu fragen, wenn ich noch gehen konnte. Da sind Frauen schon ein bisschen vernünftiger.

Unter dem Motto "Not bad for a girl" haben Sie vor eineinhalb Jahren Ihre größte Herausforderung gemeistert: Sie durchquerten als erste Frau allein und ohne Fremdhilfe die Antarktis auf Skiern von der Küste bis zum Südpol - 58 Tage und 1381 Kilometer. Wie lange dauerte die Vorbereitung, woran muss man alles denken?

Blacha: Ich habe ein gutes Jahr zur Vorbereitung gebraucht. Ich habe in Norwegen und Grönland trainiert und unzählige Stunden damit verbracht, meine Ausrüstung penibel zu planen. Eine Expedition kann an etwas ganz Profanem scheitern. Zum Beispiel, nicht genügend Streichhölzer zu haben, um den Kocher anzufeuern und Schnee zu schmelzen.

Wie viel Essen hatten Sie auf Ihrem Schlitten dabei?

Blacha: Rund 66 Kilogramm, im Schnitt habe ich mit einem Kilo pro Tag geplant. Viel gefriergetrocknete Nahrung, weil die vom Gewicht her besser ist. Dazu Nüsse, Trockenfrüchte, Schokolade. Alles, was viele Kalorien auf wenig Gramm hat.

Als Schlitten-Training haben Sie Autoreifen durch Ihren Wohnort Zürich gezogen. Eine ältere Frau soll sich vor Ihnen versteckt haben, weil Sie ihr nicht geheuer waren.

Blacha: Es gab alle möglichen Reaktionen. Beim ersten Mal hat die Polizei neben mir gehalten. Ich dachte, dass ich vielleicht etwas Verbotenes mache, aber sie haben mich nur ausgelacht und sind weitergefahren. Ein American-Football-Spieler, der zu aktiven Zeiten Sprinttraining mit Reifen gemacht hatte, wollte mir Tipps zu Haltung und Technik geben. Kleine Kinder sind durch die Reifen gesprungen, weil sie es lustig fanden. Ein Taxifahrer hat mir sogar angeboten, mich nach Hause zu bringen, weil er dachte, dass ich ein Problem habe (lacht).

Wie muss man sich das Terrain in der Antarktis vorstellen? Flach oder bergig, Gletscherspalten?

Blacha: Alles davon. Es gab drei Bereiche, in denen ich eine besondere Gefahr von Gletscherspalten hatte. Da war ich entsprechend vorsichtiger. Es gab Gebirgszüge, an einer Stelle habe ich die Ski sogar gegen Steigeisen getauscht. Andere Etappen waren einfach nur flach. Und dann gab es noch 350 Kilometer, auf denen der Wind Wellenformationen in Schnee und Eis gefräst hat. Teilweise größer als ich. Da musste ich mich durchquälen.

Wie funktioniert die Körperpflege in der Antarktis?

Blacha: Aufs Haarewaschen habe ich verzichtet, weil ich mir den Aufwand sparen wollte, so viel Wasser zu kochen. Ansonsten hat man Wasser und kann sich mit Feuchttüchern reinigen. Man muss auch bedenken, dass die Antarktis sehr sauber ist. Es gibt keinen Staub, keinen Schmutz. Außer Schweiß entsteht kein Dreck.

In den Zeitraum Ihrer Tour fiel auch Weihnachten. Wie sind Sie mit der Einsamkeit umgegangen?

Blacha: Ich wollte ja alleine losziehen, deswegen war es kein Gefühl von Einsamkeit, sondern von Selbstbestimmtheit. Ich musste jeden Tag meine GPS-Daten durchgeben und habe so auch immer eine oder zwei Minuten mit jemandem gesprochen. Zu Weihnachten habe ich meine Familie angerufen. Aber ich muss schon sagen: Zum Ende hin war ich schon schneller gereizt. Es gibt Studien, dass bei Menschen, die zu lange in Isolation sind, das Gehirn schrumpft. Es verliert die Fähigkeit, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden.

Sie betreiben den Extremsport als Hobby, sind also kein Profi. Wie finanzieren Sie die enormen Kosten für Reisen und Ausrüstung?

Blacha: 99 Prozent sind selbst finanziert. Für die Südpol-Expedition hatte ich eine Sponsoring-Vereinbarung mit der Werbeagentur Jung von Matt und Intersport. Ich arbeite in Vollzeit und habe die Freiheit, das Geld so auszugeben, wie ich möchte.

Als Sie vom Südpol zurückkamen, begann bald darauf die Corona-Pandemie - wieder Isolation.

Blacha: Kurz vor Ende der Expedition habe ich gesagt, wie sehr ich mich darauf freue, ohne zwei Schals vor dem Mund rumzulaufen. Die braucht man als Schutz vor der Kälte. Dann komme ich wieder und kann die Maske direkt wieder aufsetzen (lacht).

DK

Das Gespräch führte

Alexander Petri.