Herr
"Wir müssen mehr über Freiheit reden"

Ulrich Schellenberg, Vizepräsident des Deutschen Anwaltvereins, über die Bedrohung der Privatsphäre

25.06.2014 | Stand 02.12.2020, 22:32 Uhr

Herr Schellenberg, sehen Sie die Freiheit in unserer Gesellschaft gefährdet?

Ulrich Schellenberg: In den vergangenen Jahrzehnten hatten viele einen eher schwärmerischen Zugang zur Freiheit. Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein, hat Reinhard Mey gesungen. Es ging um persönliche Freiheit von Zwängen. Wir meinen, dass es höchste Zeit ist, sich wieder auf den eigentlichen Wert von Freiheit zu besinnen: der Freiheit von staatlicher Repression.

 

Staaten, Unternehmen, Hacker – von wem geht die größte Bedrohung für die Freiheit aus?

Schellenberg: Zunächst geht auch mal Bedrohung von uns selber aus. Es gibt eine große Bereitschaft, persönliche Daten für mehr Bequemlichkeit aufzugeben. Wir wollen den Wert von Privatheit wieder stärker in den Fokus rücken. Wir glauben, dass sie ein konstitutives Element unseres Gemeinwesens ist. Das Bewusstsein dafür schwindet aber in der Gesellschaft. Der Reflex ist, dass NSA oder Google einfach über unsere Daten verfügen.

 

Der Verlust von Privatheit gefährdet unsere Freiheit?

Schellenberg: Ja, ganz eindeutig. Wenn Sie nicht mehr sicher sein können, dass privateste Vorgänge auch nur bei Ihnen bleiben, dann denken Sie anders, formulieren anders und leben letztlich anders. Das führt zu einer grundlegenden Veränderung unserer Gesellschaft.

 

Woher kommt die Neigung zur Überwachung?

Schellenberg: Seit den Anschlägen vom 11. September gibt es ein starkes Sicherungsbedürfnis des Staates. Früher wollten wir alles vom Staat wissen und verlangten Transparenz. Heute ist es so, dass alles, was wir tun, den Staat interessiert. Er will wie mit einem Scanner über das Individuum gehen und prüfen, ob eine Gefahr von ihm ausgehen könnte.

 

Der Staat opfert unsere Freiheit für sein Sicherungsbedürfnis?

Schellenberg: Die Sicherheit hat einen derart hohen Stellenwert erlangt, dass wir uns von grundgesetzlich garantierten Freiheiten wegbewegt haben. Man muss gar nicht an die NSA denken. In den vergangenen 14 Jahren hat der Bund ein Dutzend Sicherheitsgesetze beschlossen, die das Bundesverfassungsgericht später als zumindest in Teilen verfassungswidrig wieder verworfen hat.

 

Sie plädieren dafür, der Freiheit mehr Gewicht zu geben?

Schellenberg: Wir müssen mehr über Freiheit reden. Ich wünsche mir eine gesellschaftliche Diskussion über den Wert von Freiheit und Privatheit. Ich bin sicher, dass beides für unser Leben wie wir es kennen, grundlegende Voraussetzungen sind.

 

Ist unser Rechtssystem für die Probleme, die zunehmende Verlagerung vieler Lebensbereiche ins Internet , gewappnet?

Schellenberg: Im analogen Leben haben wir eine über Jahrhunderte gewachsene Rechtsvorstellung. Im digitalen war die technische Entwicklung schneller, als die Entwicklung von Rechten. Auch im Internet sollte das Prinzip gelten, dass die Freiheit des einen da endet, wo die Freiheit des anderen beginnt. Wir sind in einer Phase, in der man sich Gedanken machen sollte, wie man Regulierungen zum Schutz der Freiheit im Internet implementieren kann.

 

Das Interview führte Til Huber.