Getanzte Leichtigkeit ohne Barrieren

Das Kunstzentrum für besondere Menschen bringt mit „Interaktion“ verschiedene Kunstformen auf die Bühne des Stadttheaters

27.06.2022 | Stand 27.06.2022, 18:16 Uhr

Probe im Großen Haus: Maria Tietze (4. von links) und ihr Ensemble bei der „Interaktion“. Premiere ist am Freitag. Foto: Stadttheater Ingolstadt

Von Alexandra Rimmelspacher

Ingolstadt – Der neunjährige Sebastian ist allein auf der großen Bühne des Stadttheaters. Er ist in seinen körperlichen Bewegungen sichtbar eingeschränkt. Doch als die Livemusik einsetzt, beginnt er mit fließenden Bewegungen und einer Leichtigkeit und Präzision zu tanzen, die einen sofort in den Bann zieht. Nach einiger Zeit kommt die Tänzerin Kathi hinzu, die ihn ergänzt, unterstützt, in die Höhe hebt.

Gleich darauf setzen Hip- Hop-Beats ein, lässig-locker liefern sich Hannes, ein Junge mit Down-Syndrom, und Erkan, der Tänzer, einen rasanten Breakdance Battle.

Karina und Hannes, die normalerweise an den Rollstuhl gefesselt sind, schweben dank ausgeklügelter Sicherungstechnik schwerelos im Bühnenraum und präsentieren mit den Tänzerinnen Maria und Kathi noch einen federleichten Tanz knapp über dem Boden in einer Haltung, die sie so normalerweise nie einnehmen können.

Sarah aus der Zirkusgruppe des Kap94 und Theresa, die Trisomie 21 hat, zeigen eine wunderschöne Nummer mit Hula Hoop und Trapez.

Autist Lewan und Sängerin Elisabeth improvisieren ein mitreißendes Gesangsduett.

Wer hier den Ton/Tanzschritt vorgibt, ist in dem Augenblick nicht wichtig, jeder gibt Impulse, jeder agiert und reagiert, das Ergebnis ist aber immer berührend, wahrhaftig und wirklich beeindruckend. Man vergisst zum Teil, dass ein großer Teil der Akteure Menschen mit verschiedensten Formen einer Behinderung/Entwicklungsstörung sind.

Diesen besonderen Menschen eine öffentliche Bühne zu bieten, ist seit Jahren das erklärte Ziel der Schauspielerin und Tänzerin Maria Tietze, die als künstlerische Leiterin und Regisseurin verantwortlich ist für die Performance „Interaktion“, die im Rahmen des Südwindfestivals am Freitag, 1. Juli, um 18.30 Uhr im Großen Haus Premiere feiert.

Interaktion hat in ihrem Kunstzentrum für besondere Menschen, in dem auch diese Produktion entstanden ist, viele Bedeutungen: Professionelle Künstler und Künstlerinnen arbeiten mit Kindern von ganz klein an bis ins junge Erwachsenenalter zusammen, fördern individuell Talente, bieten verschiedene Kunstformen an, in denen sich die Kinder ausdrücken können, beziehen die Eltern immer wieder ein. In Tanz, Theater, Musik, Gesang, Malerei und seit neuestem auch Zirkus werden die Kinder gefördert, wobei die freie Kreativität großgeschrieben wird. Bei Nastassia zeigte sich beispielsweise in der Malerei ein so großes Talent, dass ihre außergewöhnlichen Bilder Maria Tietze auf die Idee brachten, eine Show aus vielfältigen Kunstformen zu entwickeln. So werden am Freitag Projektionen dieser Bilder den Rahmen bilden für die Performance, sie inspirierten die Tänzer, Sänger und Musiker zu eigenen Auftritten wie etwa den Gruppenchoreographien.

Eine spezielle Methode, die Maria Tietze über die Jahre entwickelt hat und sich unter dem Namen „Nieves-Methode“ inzwischen patentieren ließ, ist der Grundstein dafür, dass alle Mitwirkenden ganz entspannt und fokussiert auf der Bühne stehen und ihre individuellen, künstlerischen Fähigkeiten entfalten können.

Die Tänzerin, die in Argentinien geboren wurde und mit vollem Namen Maria Nieves Tietze heißt, erklärt, dass dabei mit einer speziellen strukturellen Herangehensweise die Entwicklung eines jeden Einzelnen begleitet wird. Die Grenzen durch körperliche Defizite können durch nonverbale und visuelle Kommunikation in allen Kunstformen überwunden werden. Blockaden werden so gelöst. „Nieves“ heißt Schnee auf spanisch und er symbolisiert eben diese Transformation von kalt zu warm und auch die Leichtigkeit, die am Ende auf der Bühne zu sehen ist.

Wichtig bei den wöchentlichen Kurseinheiten ist, dass die besonderen Menschen sowohl Akteure auf der Bühne als auch Zuschauer sind. Erlerntes wird sofort dem Publikum (u.a. den Eltern) gezeigt und mit Applaus belohnt. Und so strahlen die jungen Künstler und Künstlerinnen mit ihren verschiedenen Beeinträchtigungen bei der Probe im Stadttheater eine Ruhe aus und legen eine Aufmerksamkeitsspanne an den Tag, die den hektisch im Alltag eingespannten Menschen fast neidisch werden lässt. Wo man hinblickt, nur fröhliche Gesichter: bei den Kindern, den Profitänzern, den Musikern, den ehrenamtlichen Helfern und den Eltern. Sie bilden eine Gemeinschaft mit großem Vertrauen zueinander. 36 Mitwirkende sind bei „Interaktion“ am Freitag zu sehen und zeigen, was möglich ist: nämlich alles!

DK


Premiere „Interaktion“ am 1. Juli um 18.30 Uhr im Stadttheater Ingolstadt. Kartentelefon (0841) 30547200.