Geheimnisse aus der Vergangenheit

Interview mit Jan Weiler über seinen Roman „Der Markisenmann“ und seine Lesung in Pfaffenhofen

30.09.2022 | Stand 22.09.2023, 5:06 Uhr

Jan Weiler liest am 30. Oktober in Pfaffenhofen.

München – Es ist ein Sommer, der alles verändert: Kim hat zu Hause Mist gebaut. Weil alle Abstand brauchen, soll sie in den Ferien zu ihrem leiblichen Vater nach Duisburg, während der Rest der Familie Urlaub in den USA bucht. Das Problem: Kim hatte vorher noch nie Kontakt zu ihm. Die Enttäuschung ist groß, als sie ihn schließlich trifft: Ein mittelloser Hausierer, der scheußliche Markisen aus DDR-Beständen verkauft. Doch dann entwickelt Kim erfolgversprechende Verkaufsstrategien, kommt einem Familiengeheimnis auf die Spur und erlebt einen unvergesslichen Sommer. „Der Markisenmann“ heißt Jan Weilers neuer Roman, aus dem er am Sonntag, 30. Oktober, im Rahmen der Lesebühne im Rathausfestsaal Pfaffenhofen liest.

Herr Weiler, haben Sie eine Markise zuhause? 
Jan Weiler: Nein. Aber ich schaue auf Balkone mit Markisen, die zum Teil in einem fürchterlichen Zustand sind und dringend einer Überarbeitung bedürfen.

Wie kamen Sie dann auf die Idee, einen Vertreter für Markisen zum Protagonisten eines Romans zu machen? Ist Ihnen das in einem heißen Sommer eingefallen?

Weiler: Nein, das resultiert aus der strukturellen Idee dieses Romans. Eine Tochter muss zu ihrem Vater. Und der ist ein erfolgloser Geschäftsmann. Also denkt man sich aus, womit er erfolglos sein könnte. Ein erfolgloser Bankkaufmann säße ja vielleicht nur den ganzen Tag am Rechner. Am besten wäre also, er verkauft irgendwas erfolglos. Etwas Visuelles, damit beim Lesen auch ein Bild im Kopf entsteht. Da sind Haustürgeschäfte schon ganz gut. Und irgendwann kam die Idee mit den Markisen.

Gab es diese DDR-Markisen-Kollektion „Mumbai“ und „Kopenhagen“ tatsächlich?
Weiler: Nein, das denkt man sich aus. Das ist das Schöne an dem Beruf. Wenn man so eine Welt einmal erfunden hat, dann kann man sich darin tummeln und mit den Figuren und Dingen machen, was man will. Man ist ja dann quasi Gott. Aber worauf ich sehr stolz bin, ist eine Rezension des Buches im Fachmagazin „RTS“. Das ist das Verbandsorgan für die Branche Rollladen, Tore und Sonnenschutzsysteme. Dort wurde das Buch sehr gelobt. (Er lacht.) Das fand ich viel besser als eine Rezension in der „FAZ“.

Ist denn der Ort real? Die Halle in dem Gewerbegebiet?

Weiler: Es gibt jeden Ort, der in dem Buch vorkommt. Auf Google Maps können Sie das Gebäude finden. Manche Leute haben sich einen Sport draus gemacht, die Orte zu suchen, sie zu fotografieren und mir Screenshots zu schicken. Das fand ich wirklich rührend. Die Leute, die da tatsächlich arbeiten, kennen das Buch inzwischen auch. Mittlerweile hat sich das Gelände aber ein bisschen verändert. Die Autowerkstatt ist nicht mehr da, die Kneipe wurde abgerissen. Aber die Halle gibt es noch – und das Hafenbecken sowieso.

Es heißt, Sie haben auf Wunsch Ihrer Tochter diesen Roman geschrieben?
Weiler: Sie hat sich damals beklagt, dass ich für alle Leute schreibe, bloß nicht für sie. Also habe ich ihr einen Roman versprochen – und kaum zehn Jahre später geliefert. Sie liebt dieses Buch sehr.

Hatte sie Vorgaben gemacht?
Weiler: Nein, aber es lag ja nahe, eine Vater-Tochter-Geschichte zu schreiben.

Es geht nicht nur um eine komplizierte Vater-Tochter-Beziehung, sondern auch um deutsch-deutsche Vergangenheit, um Schuld und Sühne. Hat es lange gedauert, diesen Plot zu entwickeln?
Weiler: Bei jedem Buch gibt es entsprechende Erfordernisse. Die Motivation der Figuren muss nachvollziehbar sein. Was ist passiert? Wie kann man das erzählen? Das hat man schnell. Aber man muss auch gründlich recherchieren. Biografien müssen stimmen. Wie war das mit der FDJ? Und mit der Rolle der Selbstständigen in der DDR? Die gab es ja tatsächlich. Und sie hatten es extrem schwer. Zeitliche Abläufe müssen präzise sein. Roland Papen ist in der Haupthandlung 2005 35 Jahre alt. Bei seiner Flucht aus der DDR war er 19. Das muss alles glaubwürdig sein.

Hat Roland Papen Zügen von Ihnen selbst?

Weiler: Schon, aber nicht viele. Es gibt diese schüchterne Liebe zwischen Vätern und Töchtern. 15-, 16-jährige Mädchen haben bisweilen eine emotionale Energie, die man sich nicht erklären kann. Und die einen wehrlos macht.

Vater und Tochter wechseln sich bei ihren Auto-Fahrten mit der Musik ab. Er hört DDR-Bands, sie Bravo-Hits. Mussten Sie da recherchieren – oder haben Sie das alles im CD-Schrank?
Weiler: Die Bravo-Hits waren damals in den Charts. Die sind alle in der Spotify-Playlist, die man hinten im Buch findet. Bei den DDR-Titeln war es ein bisschen komplizierter. Denn Roland Papen hat ja nicht den gängigen DDR-Musikgeschmack. Da kannte ich mich null aus. Als Wessi sagen einem die Puhdys, Karat und Silly noch etwas. Aber mehr nicht. Also habe ich mir Expertise von Leander Hausmann geholt. Er hat mich mit den ganzen Bands vertraut gemacht und mir erklärt, was eher staatskritische Jugendliche damals hörten. Das war hilfreich. Auch weil es für mich die Figur von Papen nochmal greifbarer gemacht hat.

Sie mussten den Roman in einer Zeit ansiedeln, als das Internet noch nicht so präsent war. Wie ist das eigentlich? Funktionieren viele Geschichten im digitalen Zeitalter nicht mehr? 
Weiler: Das ist tatsächlich ein Riesenproblem für das Erzählen. Stichwort Orientierung: Wer sollte sich heute noch verlaufen? Alle Leute haben Google Maps. Sie können alles nachrecherchieren. Orte, Nachrichten, Ihren Bekanntenkreis. Nichts bleibt zweifelhaft. Und natürlich würde das Geschäft von Roland Papen so gar nicht mehr funktionieren. Würde die Geschichte heute spielen, hätte Papen einen Online-Shop. Man könnte diese Markisen auch aus Bulgarien, Peru oder Kanada bestellen und er würde sie losbringen.
Ändern sich also Geschichten? Oder nur die Zeit, in der die Geschichten spielen?
Weiler: Hängt davon ab, was der Autor bezweckt. Hätte ich die Geschichte 2022 spielen lassen, würde Kim sechs Wochen lang bei ihrem Vater auf der Couch liegen und Netflix glotzen. Sie würde sich was zu essen bestellen und den Tag auf Insta mit ihren Freundinnen vertändeln. Es wäre aushaltbar. Und am Schluss würde sie sich ein Uber kommen lassen und nach Köln zurückfahren. Also: Wenn man solche Geschichten erzählen will wie im „Markisenmann“, dann geht das nicht in der Gegenwart. Fast nichts lässt sich heute erzählen, ohne das Digitale mitzuerzählen. Wenn Sie heute einen „Tatort“ sehen, wird das Handy immer miterzählt. Entweder es hat keinen Akku mehr oder es wurde kaputt gemacht oder man hat keinen Empfang. Sonst wäre das Problem ja ganz schnell gelöst.

Wie einfach oder schwierig ist es eigentlich, den Figuren Namen zu geben?

Weiler: Es macht vor allem Spaß. Ich verwende oft Nachnamen aus meiner Schulzeit – entweder von Lehrern oder von Mitschülern. Es dürfen keine sprechenden Namen sein. Es müssen – wie Loriot gesagt hat – bürgerliche, solide Namen sein. Authentische Namen. Das funktioniert automatisch. Weil die Namen nicht ausgedacht klingen und nichts mittransportieren. Bei der „Eingeschlossenen Gesellschaft“ haben die Lehrer alle Namen von Lehrern, die ich in der Schule hatte. Ich habe das Geschlecht gewechselt und ihnen andere Vornamen gegeben. Dafür schaue ich mir meist die Webseite beliebte-Vornamen.de an. Da sucht man sich den Geburtsjahrgang einer Figur, der man einen Namen geben möchte. Sagen wir mal 1971. Dann schaut man, welche Namen 1971 populär waren – und nimmt den auf Platz 5. 1971 wäre das vielleicht so ein Name wie Ralf oder Frank. Würde man einen Mittfünfziger Fin oder Leon nennen, wäre das nicht glaubwürdig. Bei den Kühn-Romanen habe ich sogar den Namen eines Schulfreundes für den Protagonisten gewählt. Ich hatte ihn damals extra angeschrieben und gefragt. Er hatte nichts dagegen.

Woran arbeiten Sie gerade?
Weiler: Ich habe gerade das Drehbuch für „Die Ältern“ fertiggestellt, das ist die Fortsetzung vom „Pubertier“. Außerdem reden wir über die Verfilmung des „Markisenmann“.

Wen würden Sie denn gern in der Rolle des Roland Papen sehen?
Weiler: Darüber darf ich noch nicht sprechen. Aber Besetzungsfragen werden früh diskutiert. Noch bevor die Produktionsfirmen losziehen, um Gelder zu beschaffen. Es ist leichter einen Film zu finanzieren, wenn die Darsteller „bankable“ sind. Ich könnte jetzt sagen, Tom Hanks soll die Hauptrolle spielen – aber dafür müsste er zugesagt haben.

Tom Hanks wäre doch schon zu alt für die Rolle.

Weiler: Stimmt. Aber es ist wirklich nicht so leicht. Es gibt ganz viele tolle Schauspieler. Doch leider sind sie in der Regel einen Tick zu alt.

Milan Peschel würde doch super passen? Der hat so was Verlorenes, Verschrobenes, Verletzliches.
Weiler: Der ist aber schon Anfang 50. Wir brauchen jemand, der wie Mitte 30 aussieht. Papen ist mit 20 Vater geworden, seine Tochter ist jetzt 15 Jahre. Das ist das Problem. Aus dem gleichen Grund wären auch Bjarne Mädel oder Charly Hübner keine Option. Wundervolle Schauspieler, aber für diese Rolle zu alt. Außerdem muss man die Rolle mindest zweimal besetzen, weil es verschiedene Zeitebenen gibt: Ende der 80er, 2005 und die Gegenwart.

Jetzt sind Sie erst mal auf Lesetour. Ihr Terminkalender ist voll. Sind Sie gern unterwegs?
Weiler: Ich bin wahnsinnig gern unterwegs, obwohl es gerade sehr hart ist. Viele Lesungen sind nicht mehr gut vorverkauft. Wo früher 400 Leute im Saal waren, verkaufen Sie jetzt 61 Karten. Für die Veranstalter ist das ein Desaster. Viele Kollegen gehen gar nicht mehr auf Lesereise. Aber ich denke, ich lese ja für die Leute, die da sind.

Die Fragen stellte Anja Witzke.

ZUR PERSON

Jan Weiler wurde 1967 in Düsseldorf geboren und lebt heute in München und Umbrien. Er ist Journalist und Schriftsteller und war viele Jahre Chefredakteur des SZ-Magazins. Seine Bücher „Maria, ihm schmeckt’s nicht!“, „Antonio im Wunderland“ und „Das Pubertier“ wurden auch verfilmt. „Der Markisenmann“ ist bei Heyne erschienen und kostet 22 Euro. Mittels QR-Code kommt man zum Soundtrack für das Buch auf Spotify.

DK/ Foto: Penguin Random House