Temporeiches Debatten-Musical

Auftakt der Ingolstädter Theatersaison im Großen Haus mit Yael Ronens „Slippery Slope“

29.09.2022 | Stand 22.09.2023, 5:09 Uhr

Musikalische Schlitterpartie: Enrico Spohn und Luiza Monteiro in „Slippery Slope“ von Yael Ronen und Shlomi Shaban. Foto: Malinowski

Von Anja Witzke

Ingolstadt – „Ich hasse sie alle“, sagt Yael Ronen auf die Frage, welche der Figuren aus ihrem Stück „Slippery Slope“ sie eigentlich am liebsten mag. Sie lacht. „Ich wollte Charaktere entwickeln, die liebenswert und niederträchtig sind. Und dieser Zustand sollte fließend sein. Hier gibt es nicht die Unterscheidung in ,good guys‘ und ,bad guys‘, in Täter und Opfer. In der Geschichte sollten alle irgendwie verdächtig sein, aber gleichzeitig sollten immer ihre guten Absichten durchschimmern.“

„Slippery Slope“ heißt übersetzt etwa „rutschiger Abhang“ oder auch „heikle Angelegenheit“ und erzählt eine komplexe Geschichte über Machtmissbrauch, Cancelculture und #MeToo: Der Musiker Gustav Gundesson will nach einem Cancelculture-Skandal sein Comeback feiern – und auch im Privaten reinen Tisch machen: Er will sich zu seiner Geliebten bekennen und seine Frau verlassen. Er hatte einst die Roma-Sängerin Sky „entdeckt“ und gefördert. Doch die startet jetzt als Newcomerin unter einem anderen Produzenten ihre Solokarriere (mit Millionen Followern auf TikTok) und klagt ihn öffentlich an. Die feministische Nachwuchsjournalistin Stanka wittert eine Story, wird allerdings von ihrer Chefredakteurin ausgebremst. Die hat ihre Gründe. Einer davon: Sie ist mit Gustav verheiratet. Und dann gibt es noch einen PR-Experten („Krisenmanagement, Krisenkommunikation, Krisenprävention, Krisenoptimierung“), der für jeden Skandal die passende Exit-Strategie empfiehlt.

Liebe und Betrug, Ruhm und Macht, emanzipatorische Aneignung, ausbeuterische Enteignung – wo verläuft die Grenze, wer sagt die Wahrheit und wer profitiert am meisten? Yael Ronen und Shlomi Shaban haben eine schwarzhumorige musikalische Revue über Kunst und Macht in einer postfaktischen Gesellschaft geschrieben. Schließlich: „Das war in den vergangenen Jahren gerade in der Kulturszene ein heißes Thema“, sagt Yael Ronen. Am Samstag, 1. Oktober, hat „Slippery Slope“ im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt Premiere.

„Fast ein Musical“ heißt es im Untertitel. Wieso nur „fast“? Die Regisseurin lacht: „Es ist nicht das, was man gewöhnlich unter einem Muscial versteht – mit großer Band, Musikern, Tänzern. Wir haben keine große Besetzung, sondern nur fünf Schauspieler. Es ist die Minimal-Version eines Musicals.“ Es spielen: Enrico Spohn, Luiza Monteiro, Marc Simon Delfs, Andrea Frohn und Judith Nebel.

Schon lange wollte Yael Ronen, die 1976 in Jerusalem geboren wurde, aus einer Theaterfamilie stammt, zu den aufregendsten Theatermacherinnen in Israel zählt und seit 2013 Hausregisseurin am Maxim-Gorki-Theater in Berlin ist, mit einem alten Freund aus Highschool-Zeiten ein Stück entwickeln. „Shlomi Shaban ist in der israelischen Pop-Szene ein großer Star“, erzählt sie. „Von ihm stammt die Idee mit dem Sänger, der ein Comeback plant. Und gemeinsam haben wir dann den Handlungsfaden entwickelt – mit unterschiedlichen Perspektiven und vielen Wendungen. Es gibt kein Schwarz-Weiß. Jede Wahrheit hat verschiedene Schichten. Alle Figuren erweisen sich als unzuverlässige Erzähler. Nie sieht man alles vollständig. Überall gibt es blinde Flecken.“

Am Berliner Gorki-Theater hatte „Slippery Slope“ im November vergangenen Jahres Premiere. Auch dort war Stefano Di Buduo schon für die Videokunst verantwortlich: „Die komplette Inszenierung ist in Videos eingetaucht. Eine Videowelt folgt der nächsten, und dadurch befinden wir uns fast durchgängig in einer Scheinwelt, einer virtuellen Welt. Das ist das System der Social Media, wir erscheinen und wirken so, wie wir wahrgenommen werden möchten. Wir bestimmen es ja selber. Eigentlich ein Rollenspiel, wie im Videogame. Und diese Videogame-Landschaften und Avatare spielen natürlich eine große Rolle in der Videoästhetik dieser Inszenierung.“ Das Stück handelt auch vom Social-Media-Wahn in unserer Gesellschaft. „Es ist bestimmt eine der Herausforderungen unserer Zeit, einen Umgang mit der Social-Media-Welt zu finden“, sagt Stefano Di Buduo. „Manche halten sich komplett fern, der eine oder andere verliert sich darin. Das ist aber der Grund, warum dieses Stück auch so zu den Menschen spricht. Es sind Schicksale, die uns berühren, die wir wiedererkennen.“

Und was will Yael Ronen dem Publikum mitgeben? „Zunächst mal: Ich stelle lieber Fragen, als dass ich Antworten gebe. Eine Botschaft haben wir also nicht. Es geht eher darum, den Menschen die Komplexität der Geschichte bewusst zu machen und sie zum Nachdenken zu bringen – dazu kann das Theater einen Beitrag leisten.“

DK


Premiere ist am 1. Oktober um 19.30 Uhr im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt. Kartentelefon (0841) 30547200.