Der schöne Stilbruch

Neuburger Barockkonzerte I: Zeitreise mit den Beatles und Henry Purcell

10.10.2022 | Stand 22.09.2023, 4:44 Uhr

Wenn das Barockensemble die Beatles interpretiert: Die Lautten Compagney und die Saxofonistin Asya Fateyeva im Neuburger Kongregationssaal. Foto: Schulze-Reimpell

Von Jesko Schulze-Reimpell

Neuburg – Wie wären Barockkomponisten wohl mit dem Saxofon umgegangen, wenn sie das 1847 erfundene Instrument bereits gekannt hätten? Wie hätten die Beatles komponiert, wenn sie in der Barockzeit gelebt hätten? Wäre Henry Purcell (1659–1695), wenn er im 20. Jahrhundert komponiert hätte, ein Freund der Beatles gewesen? Und: Darf man das überhaupt, Werke von Purcell wie Pop musizieren und Pop wie Purcell? Fragen über Fragen, die die Musiker des berühmten Originalklang-Ensembles Lautten Compagney Berlin und die ukrainische Saxofonistin Asya Fateyeva elegant offen lassen. Sie beantworten sie nicht, sie spielen einfach, wie es ihnen gefällt – umwerfend unterhaltsam, tänzelnd, traumschön. Und lassen sich dabei nicht beeindrucken von Vorwürfen der Stil-Polizei und Wächtern des sogenannten guten Geschmacks. Am Wochenende traten sie bei den Neuburger Barockkonzerten auf und stellten dort ihr neues Album „Time Travel“ vor.

Und das ist tatsächlich verblüffend. Allein der Anfang des Konzerts im Kongregationssaal: Da spielt das barocke Originalklang-Ensemble ausgerechnet den Song „Another Girl“ – man wüsste zu gerne, was die Beatles davon gehalten hätten. Nach ein paar Takten stimmt noch die Saxofonistin Asya Fateyeva in die munter wiegende Melodie ein und macht den Stilmischmasch perfekt. Die letzten Töne des Songs sind noch nicht verklungen, da zischen schon eisige Windgeräusche durch den Saal, die zum wilden Sturm-und-Gewitter-Satz „Ye blust’ring brethren oft the skies“ überleiten – als wäre der Zeitsprung von 1965 ins Barock des Jahres 1691 eine Kleinigkeit.

So geht es weiter in dem Konzert: Die Lautten Compagney lässt Beatles und Purcell mit erstaunlicher Lässigkeit ineinander übergehen. Sicher: Man erkennt die Unterschiede. Auch wenn ein Barockensemble die Beatles-Songs anstimmt, wird daraus kein echter Purcell. Und ein Saxofon macht die Opernarien des britischen Barockkomponisten nicht zur modernen Musik. Man hört aber auch die Gemeinsamkeiten. Beide, Beatles und Purcell, huldigen dem schönen Melos. Und beide komponieren mit so viel Beat, dass es einem so in die Glieder fährt, und die Besucher kaum mehr stillsitzen können.

Für die schönen, traurig-schwelgerischen Melodien ist vor allem Asya Fateyeva zuständig. Die 32-Jährige lässt ihr Instrument mit solcher Schönheit glänzen, als wäre sie eine Opernsängerin. Und das Berliner Ensemble ergänzt und untermalt das mit unbändiger Freude an schrägen, farbigen Klängen – ohne dabei allzu viel Rücksicht zu nehmen auf die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis. Da krächzt und knarzt es in Purcells „Cold song“ so extrem aus dem Orchesterrund, dass man sich fast schon wundert, dass sich nicht überall im Saal Eiszapfen bilden. Die akustischen Special Effects erzeugt dabei der humorvolle Ensemble-Leiter Wolfgang Katschner mit einer riesigen Palette an ausgefallenem Schlagwerk und einer Maultrommel. Immer wieder auch verwandeln sich urplötzlich das historisierende Ensemble zur Band, wenn etwa der Solocellist sein Instrument aufheulen lässt als wäre es eine E-Gitarre.

Hin und wieder verwischen die Unterschiede zwischen Barock und Pop dann aber doch: Wie, haben die Beatles vielleicht doch bei Purcell abgeschrieben? Etwa bei dem Song „Yesterday“, der förmlich aus der Arie „Ah! Belinda“ („Dido und Aeneas“) herauszuwachsen scheint. Aber eigentlich ist das auch egal. Was zählt: Es ist gute Musik, die Spaß macht. Und die zeigt, dass Pop und Klassik manchmal gar nicht so weit voneinander entfernt sind.

DK