Bis die Luft ausgeht

Der Oboist François Leleux spielt ein teuflisch schwieriges Oboenkonzert und wird wie ein Held gefeiert

11.07.2022 | Stand 22.09.2023, 21:20 Uhr

Programm mit ganz großer Symphonik: Alain Altinoglu dirigiert, François Leleux spielt die Oboe . Foto: Weinretter

Von Jesko Schulze-Reimpell

Ingolstadt – Man kann ein Konzert nach unterschiedlichen Kriterien beurteilen, etwa nach dem intensivsten Applaus oder der größten Lautstärke im Saal. Auf beiden Feldern hat das Gastspiel des Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks bei den diesjährigen Audi-Sommerkonzerten alle Rekorde gebrochen. Dass die brutale Klangmacht bei Gustav Mahlers erster Sinfonie größer sein würde als bei jedem anderen Werk des diesjährigen Festivals, war eigentlich vorher klar. Die hessischen Musiker, die sich auf die Bühne drängten, brachten die Lautstärkepegel bis an die Grenze des Erträglichen – der Festsaal ist für derartige Sinfonik schlicht zu klein, der Klang scheint ab einem bestimmten Punkt nicht mehr beherrschbar.

Anders sieht es mit dem größten Applaus aus. Denn da gab es am Sonntagabend einen Überraschungssieger: François Leleux mit dem Oboen-Konzert „Extase“ von Qigang Chen, das vermutlich so gut wie niemand im Saal kannte. Nachdem der letzte Ton verklungen war, brüllte das Publikum vor Begeisterung, nach und nach standen fast alle Besucher auf, um den Solisten zu würdigen.

Tatsächlich ist Qigang Chens Konzert derartig gespickt mit spieltechnischen Herausforderungen, dass man fast schon ein Hexenmeister sein muss, um das zu bewältigen. Leleux spielte geradezu überirdisch, man hatte das Gefühl, Oboe noch niemals so packend gehört zu haben. Kaum wahrscheinlich, dass es überhaupt noch einen besseren Oboisten auf der Welt gibt als den Franzosen. Bereits der fanfarenhafte Beginn des Stücks zeigte das sonst eher etwas stiefmütterlich behandelte Orchester-Instrument in verblüffender Brillanz: mit der Lautstärke eines Wagnertenors.

Dann kam alles vor, was für Oboisten eigentlich unspielbar ist: Glissandi, Veränderungen der Klanglichkeit des Tons, unfassbar schnelle Tonfiguren und extrem hohe Töne. Passagen, bei denen Leleux die Luft schier endlos lang anhalten muss: Das ist vermutlich nur mit Zirkularatmung zu erreichen, einer Technik, bei der noch während der Ton-Erzeugung gleichzeitig eingeatmet wird. Gerade diese Technik ist für Oboisten äußerst schwer, da sie mit hohem Druck die Luft in das Doppelrohrblatt pressen. So musste man sich fast schon Sorgen um François Leleux machen, der mit rotem Kopf mit seinem Instrument kämpfte, minutenlang nicht einatmete, während die Blutgefäße in seinem Gesicht zu platzen drohten. Qigang Chens Oboenkonzert ist mit Sicherheit nicht der Gesundheit förderlich.

Es ist übrigens auch kein besonders gut komponiertes Werk, wenn auch ein sehr bühnenwirksames. Denn nach der hinreißenden Eröffnung wechselten chinesisch-exotische Motive und tückische Schwierigkeiten einander in bunter Folge ab, aber dabei wirkte alles wie eine bloße Einleitung, bei der der Hauptteil der Motivverarbeitung weggelassen wurde.

Das hr-Sinfonieorchester konnte bereits vor dem Oboenkonzert philharmonische Magie beim Vorspiel von Richard Wagners „Lohengrin“ entfalten. Engelhaft senkten sich die Klänge aus höchster Höhe in den Festsaal hinab – und Dirigent Alain Altinoglu zeigte dabei, mit welch großem Bogen er den lebendigen, warmen Klang des Orchesters zu strukturieren vermag. Das hr-Sinfonieorchester ist wie fast alle deutschen Rundfunkorchester absolute Weltklasse.

Das Schwergewicht des Abends war allerdings Mahlers erste Sinfonie, die Alain Altinoglu in französischer Manier anging – nämlich vom Klang her. So breitete Altinoglu bereits die Waldstimmung am Anfang mit fast stehenden Klängen und enormer Ruhe aus. Ein Tableau, das fast nicht vergehen wollte. Überhaupt haben die ruhenden Passagen der Sinfonie so eine besondere, geheimnisvolle Schönheit. Aber Altinoglu kann noch mehr: wienerischer Schmäh und wirtshaushafter Witz prägten den zweiten Satz. Geradezu perfekt organisierte der Franzose den langsamen Satz – das Bruder-Jakob-Motiv wird unmerklich von der böhmischen Blaskapelle hinweggedrängt. In den entscheidenden Momenten an den Satzenden konnte Altinoglu Druck machen, das Tempo anziehen, Agilität zeigen. Im rasant-optimisten Schlusssatz sprengten die Effekte allmählich die Möglichkeiten des Saals. Als schließlich die Posaunen und sieben Hornisten aufstanden und in den Raum schmetterten, war die Lautstärke so ohrenbetäubend, dass man um das renovierungsbedürftige Gebäude fürchtete. Aber manchmal müssen Zukunftsvisionen eben richtig krachen, damit sie in Ingolstadt gehört werden. Jubel, Begeisterung und Bravorufe am Ende für einen der Höhepunkte des Musikfestivals.

DK