Augsburg
Plädoyer für Menschlichkeit

Viel Jubel für "Die rote Zora" am Staatstheater Augsburg: Simon Windisch schafft starke Bilder voller Witz und Poesie

29.11.2019 | Stand 23.09.2023, 9:42 Uhr
Mal Mensch, mal Möwe: Katharina Rehn, Anatol Käbisch, Linda Elsner, Sebastian Baumgart, Patrick Rupar und Katja Sieder erzählen die Geschichte von der "Roten Zora" und ihrer Bande in Augsburg auf höchst originelle Weise. −Foto: Fuhr

Augsburg (DK) "Nordsee", "Ozeanischer Nordostatlantik" oder "Mittelmeer" steht auf den Plastikcontainern, die am Hafen der Küstenstadt Senj in großen Paletten aufeinandergestapelt sind.

Früher war hier das Meer. Doch unsere Meere liegen im Sterben - durch Überfischung, Verschmutzung, Klimawandel - und deshalb sitzt man hier in Senj auf dem Trockenen. Vor allem die Möwen, die kein Futter mehr finden. Sie hocken auf den Containern, werfen aus schräg gelegten Köpfchen interessierte Blicke ins Publikum, spreizen die Flügel, lassen ihr gellendes "Kiu" hören, lauern auf Reste, die vom Markttag übrigbleiben. Der alte Fischer Gorian hat ein Herz für sie - und wirft ihnen ab und an etwas zu. Und gemeinsam mit ihm beginnen sie eine Geschichte zu erzählen - von der roten Zora und ihrer Bande. Die besteht aus elternlosen Kindern, die in einer Ruine unweit des Fischerdorfes ein unabhängiges, freies Leben führen, sich ihr Essen zusammenstehlen und bald schon einen Kampf gegen die Reichen und Mächtigen der Stadt anzetteln.

Simon Windisch hat den Kinderbuchklassiker von Kurt Held als Wintermärchen des Staatstheaters Augsburg auf die Bühne gebracht - als eindrucksvolles Spiel um die Kraft der Freundschaft, aber auch als Denkanstoß, die Mechanismen und Werte unserer Konsum- und Wohlstandsgesellschaft zu hinterfragen.

1941 wurde der Jugendroman "Die rote Zora" veröffentlicht. Der Autor, Kurt Kläber (1897-1959) war Revolutionsdichter und linker Kulturfunktionär, bis er 1933 vor den Nazis flüchten musste. Im Schweizer Exil schrieb er weiter. Unter dem Pseudonym Kurt Held erschien schließlich "Die rote Zora". Es wurde ein Welterfolg: Generationen von Lesern ließen sich mitreißen von den Abenteuern des unerschrockenen Mädchens und ihrer mutigen Bande, die den Erwachsenen die Stirn bieten und dem Fischer Gorian (Andrej Kaminsky) im Kampf gegen die Fischereigesellschaft, die alle Fanggründe aufkauft, beistehen. Es geht um Außenseitertum und gesellschaftlichen Druck, Macht und Manipulation, aber auch um Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.

Regisseur Simon Windisch rückt die Geschichte näher an die Gegenwart heran und legt den Fokus auf ihren sozialkritischen Gehalt: die Kluft zwischen Arm und Reich, die Geschäftspraktiken der großen Unternehmen, die Ausbeutung der Ressourcen, die Folgen für die Natur. Dabei ist seine Inszenierung nicht nur politisch, sondern auch hoch poetisch, temporeich und voller Komik. Schon die Entscheidung, die Möwen zum Motor des Stücks zu machen, ist so ungewöhnlich wie bestechend. Kostümbildnerin Rosa Wallbrecher steckt die Schauspieler in zerrupfte, fedrige Outfits aus Weiß und Hellbeige, stattet sie mit Flügeln aus Stoff auf und setzt Katharina Rehn, die dann in die Rolle der roten Zora schlüpft, einen knallroten Plastiktintenfisch auf den Kopf. Wenn sich die Vögel in die Kinder aus der Geschichte verwandeln, in Branko (Anatol Käbisch), Nicola (Patrick Rupar), Pavle (Linda Elsner) und Duro (Katja Sieder), dann geben sie ihr Möwendasein nie ganz auf. Immer wieder fallen sie in diese typischen vogelartigen Bewegungs- und Sprechmuster zurück. Und beides zusammen erfordert nicht nur hohe Präzision, sondern birgt auch einen ungeheuren Spielwitz.

Lisa Horvath hat die Bühne im Martini-Park mit riesigen Plastikcontainern bestückt, die zum einen Symbol für die existenzielle Bedeutung von Wasser und die menschengemachte Klimakatastrophe schlechthin sind, zum anderen lassen sie sich rasch verschieben, sind in unterschiedlicher Zusammensetzung mal Fabrik, mal Markt, mal Hafen, mal Uskokenburg. Sie sind Klettergerüst und Geheimversteck, Fischerboot und Hühnerstall, leuchten giftig grün oder bergen (Stoff)Fische. Und: Sie geben perfekte Percussioninstrumente ab. Denn auch das ist ein großer Vorzug dieser Inszenierung: Robert Lepenik hat Musik komponiert, die hier live dargeboten wird. Dann zieht Sebastian Baumgart (als böser Karaman) seine Geige hervor (auch mal aus einem Fisch) und alle singen, stampfen, trommeln - ein gigantischer Sound.

Simon Windischs Inszenierung ist klug, bildstark, unterhaltsam und immer wieder überraschend. Und seine Schauspieler agieren allesamt präzise, geschlossen, auf hohem Energielevel und mit unbändiger Spiellust. Sie machen aus der Abenteuergeschichte ein Theaterereignis. "Die rote Zora" wird zum Plädoyer für die Kraft des Einstehens untereinander. Großer Applaus!

ZUM STÜCK
Theater:
Martini-Park, Augsburg
Regie:
Simon Windisch
Bühne:
Lisa Horvath
Kostüme:
Rosa Wallbrecher
Videodesign:
Peter Venus
Musikkomposition:
Robert Lepenik
Dauer:
100 Minuten, eine Pause
Vorstellungen:
bis 2. Februar 2020
Kartentelefon:
(0821) 3244900

Anja Witzke