Nürnberg
Bildgewaltige Sozialgroteske

Gerhart Hauptmanns Tragikomödie "Die Ratten" im Nürnberger Staatsschauspiel

07.03.2017 | Stand 02.12.2020, 18:32 Uhr

Die Familienidylle trügt: Frau John (Julia Batolome) hat ihr (heimlich gekauftes) Kind ihrem Mann (Daniel Scholz) untergeschoben. - Foto: Bührle

Nürnberg (DK) Den Begriff des "Bürgerlichen Trauerspiels", das noch bis Ende des 19. Jahrhunderts nur die gehobenen Stände auf der Bühne duldete, verlängerte Gerhart Hauptmann (1846-1946) in seinen sozialdramatischen Stücken ins Prekariat, ins Milieu der "sozial Abgehängten" hinein und provozierte mit seinem "Proletarischen Trauerspiel" nicht nur den deutschen Kaiser, sondern die ganze verrottete wilhelminische Gesellschaft.

Was er in seiner Tragikomödie "Die Ratten" (1911 in Berlin uraufgeführt) in Gestalt des abgehalfterten Theaterdirektors Has-senreuter sogar thematisiert: Der Klassenkampf hatte auf dem zeitgenössischen Theater, dem die aufkommende "Moderne" den Kampf angesagt hatte, nichts zu suchen. Die "soziale Wirklichkeit" wurde ausgeblendet.

Aber dieses spannende Kapitel wird in der Inszenierung "Die Ratten" von Sascha Hawemann am Nürnberger Staatsschauspiel zur Klamauk befrachteten Nebenhandlung heruntergespielt, und es bleibt bei einer zwar bildgewaltigen, aber letztlich effekthascherischen Sozialgroteske, die das Berliner Mietskasernen-Milieu im Stile eines sozialromantischen Zille-Milljöhs ausstellt. Zwar zieht der Regisseur alle Register der Bühnentechnik, lässt - Theater im Theater - eine Guckkastenbühne auffahren, während auf der "echten" Bühne die Wände aus Packpapier immer wieder ein- und aufreißen, um symbolträchtig hinter den dünnen Kulissen der bürgerlichen Gesellschaft die Abgründe sichtbar zu machen (Bühnenbild Wolf Gutjahr).

Entsprechend schrill und bizarr das Figurenarsenal dieser "Gesellschaft vom Dachboden", wo Hauptmann seine "Ratten" ansiedelt, und wo die Menschen wie Ungeziefer unter Ratten und Mäusen hausen. Dort bringt auch das polnische Dienstmädchen Pauline (Josephine Köhler) ihr uneheliches Kind zur Welt, das sie in ihrer Not für 120 Mark der Frau John verkauft, die es ihrem Mann als eigenes Kind unterschieben will. Julia Bartolome spielt, nein überbrüllt im angestrengten Dauerton ihre Frau John mit dramatischer, aber nicht immer stimmiger Wucht. Ihren schrägen, ganzkörpertätowierter Bruder Bruno stilisiert Stefan Will Wang Augen rollend zum Klischee des gewalttätigen Losers, wohingegen Daniel Scholz Herrn John als gutgläubig-einfältigen Ehemann einer Familienidylle nachhängen lässt, die in solch einem drastisch überzeichneten Sozialmilieu keine Chance hat. Nicola Lembach brilliert variantenreich in mehreren Rollen: als sich ständig verhaspelnde Theaterdirektorsgattin; als kindsmörderische Frau und Mutter oder als angestrengt talentlose Schauspielerin, die mehr auf dem Schoß des Theaterdirektors als auf der Bühne landet. Stefan Lorch gibt diesen als schmierigen Prinzipal, nach Vorbild des legendären Schmierentheaterdirektors Striese, mit donnerndem Theaterpathos, womit die Inszenierung auch ihren offensichtlichen Tribut an Tschechow ("Nach Moskau") und Thomas Bernhard ("Morgen Augsburg") entrichtet hat.

Darstellerischer Lichtblick ist das Schauspieler-Duo Philipp Weigand und Julian Keck, die - in mehreren Rollen - dem comichaften Bilderbogen einen Hauch surreal anmutender Beckett'scher Absurdität verleihen. Aber die stilleren, überzeugenderen Szenen, wo Gags und Slapsticks Pause haben, sind rar in diesem überfrachteten Ratten-Nest, das sich offenbar den erstaunten Ausruf des verhinderten Theaterdirektors zum Motto genommen hat: "Erfinden Sie mal so was!" Dem pflichtete das hin- und hergerissene Publikum mit Applaus für die Schauspieler und Buhs für die Regie bei!

Die nächsten Vorstellungen sind am 9., 17., 18., 21. und 30. März. Karten unter (01 80) 5 23 16 00.