Malibu-Drinks und Battavia-Fox

100 Jahre nach der Uraufführung feiert die Oper Nürnberg den "Vetter aus Dingsda"

19.04.2021 | Stand 28.04.2021, 3:33 Uhr
Mitreißendes Spiel: John Pumphrey als 2. Fremder und Paula Meisinger als Hannchen in der Online-Version des "Vettern aus Dingsda am Staatstheater Nürnberg. −Foto: Olah, Staatstheater Nürnberg

Nürnberg - Es war im Berliner Theater am Nollendorfplatz: Dort erlebte am 15. April 2021 "Der Vater aus Dingsda" seine Uraufführung und begann einen tollen Siegeszug - auch dank Eduard Künnekes anspruchsvoller Musik mit den dramatischen Zutaten Spießermief, floppende Liebesutopie, Flirtoffensive.

Schon in der ersten Auflage seines Standardwerks "Operette" und seit 1990 machte sich Volker Klotz stark für das musikalische Lustspiel mit dem von Rideamus und Herman Haller brillant durchgezogenen Störenfried-Motiv. Das bedeutete einen Imageschub: Denn so galt "Der Vetter aus Dingsda" auch für ambitionierte Theatermacher als komödiantische Sause mit besten Voraussetzungen für eine Entlüftung vom Operetten-Mief der Nachkriegsjahre.

In der Aufführungsgeschichte gibt es also eine Vielzahl von Alternativvisionen zum im Textbuch vorgeschriebenen Villen-Anwesen. Jüngst brach im Stream aus dem Münchner Gärtnerplatztheater vom "strahlenden Mond" sogar das Paralleluniversum der "Raumpatrouille Orion" herein. Noch immer leuchtet "Der Vetter aus Dingsda" so stark, dass er viele andere Künneke-Operetten versengt und versenkt. Am ehesten behauptet sich daneben noch "Glückliche Reise", aber was ist mit "Lockende Flamme" über E. T. A. Hoffmann, "Lieselott", "Herz über Bord" oder "Die Ehe im Kreise"? Noch etwas trägt bei zum Strahlen des Werks am Operettenhimmel: Künnekes Partitur hat mehrere Gesichter, die alle ohne bearbeitende Retuschen möglich sind: Ein romantisch-symphonisches, ein kabarettistisches oder ein schlicht-liedhaftes.

Ein Besonderes hört man auch in der Neu-Produktion der Oper Nürnberg, wo die gestreamte Premiere im Online-Spielplan steht. Tickets gibt es für 5 Euro. Bekannte Melodien, gemischte Gefühle. Lutz de Veer entlockt der kleinen Besetzung aus der Staatsphilharmonie Brio und Rhythmus mit dominanten Bläsern, Improvisationen und satten Tonkaskaden. Trotz Microports sind vor allem die Frauen stimmlich fast zu leichtgewichtig für die Combo-Offensive. Auch mit den von der Regie herausgemeißelten Eigenheiten wirken die Figuren flacher als nötig. Tante Wimpel und Onkel Josse schmausen an langer Tafel: Franziska Kern spielt die listig Zurückhaltende, bis der Strandanimateur kommt, und Taras Konoshchenko agiert nach Gutsherrenart. Hannchen werkelt daneben an einer Großkochstelle mit Stapeln von Pizzakartons und Paula Meisinger aus dem Opernstudio singt diese schöne Soubretten-Partien trotzdem so sonnig wie es sein soll. Zum Batavia-Fox beamen sich alle Richtung Sand, Strand und Sonnenstuhl. Hans Kittelmann hätte den abgeblitzten Freier Egon von Wildenhagen gern zur liebenswerten Figur gemacht. Aber wie er die knallbunten Malibu-Drinks auf dem Tablett schwenkt und kredenzt, wirkt irgendwie nerdig. Und John Pumphrey produziert sich als zweiter Fremder mit einem Edelrost-Schlitten, der nach horribler Oköbilanz stinkt.
Bühnenbildnerin Pavlina Eusterhus definiert den Spielort nicht zu genau. Dabei ist "Dingsda" auf der Operettenlandkarte überm Atlantik und nicht am Bühnenschauplatz. Die international renommierte Regisseurin Vera Nemirova wähnt sich erhaben über die Gattung Operette. Deshalb sind ihr die handelnden Figuren weder sehr sympathisch noch sonderlich wichtig. Sie pudert das geistvoll-pointierte Stück mit viel Bildungsstaub. Also beschwört die schwärmerische Julia "Tristan"-Akkorde und liest Verse von Shakespeares "berühmtesten Liebespaar der Welt" aus dem Reclam-Heft. Der seiner Volljährigkeit entgegenfiebernde Teenager outet sich allerdings auch als Smartphone-Junkie. Oh My Goodness! Andromahi Raptis mag noch so schön singen und berührt trotzdem wenig, weil sie die Hauptzielgruppe des Publikums an die pädagogischen Herausforderungen durch eigene Kinder und Enkel erinnert. Die Geschichte von Fernliebe und Loslassen endet sachlich und glatt. Im Grunde bleibt am Ende alles, wie es ist, auch wenn der Julias Herz erobernde Fremde grundsympathisch und für die große Businesskarriere vorerst zu soft auftritt. Sogar der bemerkenswert fein, höflich und jungenhaft singende Martin Platz vermochte Nemirovas keine tiefere Figurenprofilierung zu suggerieren.
So bleibt der beste szenische Coup dieser digitalen Premiere der zugespielte Schlussapplaus mit Pfeifen und Trampeln. Die Soli winken, werfen Kusshände, strahlen wie beim Grand Prix. Reine Poesie ist die Kameraperspektive von der Hinterbühne zu den Silhouetten der Darsteller Richtung leeren Zuschauerraum: Das war echter Mut zum Träumen von einem echten Theater mit echtem Publikum - und dann auch wieder echtem Operette-Feeling. Der letzte Battavia-Fox der staatsphilharmonischen Operetten-Combo macht noch mehr Lust!

DK


Weitere Termine in Planung unter www. staatstheater-nuernberg. de