Ingolstadt
What a wonderful music

Ein ungewöhnliches Neujahrskonzert: Das Georgische Kammerorchester Ingolstadt spielt mit einem Cellisten-Quartett

03.01.2015 | Stand 02.12.2020, 20:21 Uhr

Leidenschaftliche Vier: Das Rastrelli-Quartett und das GKO unter Leitung von Ruben Gazarian - Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) Alles ist etwas anders in diesem Jahr. Das Georgische Kammerorchester beginnt die Saison mit einem Konzert, ohne auch nur ein einziges Werk der klassischen Musik aufzuführen. Als Solist agiert ein Ensemble mit vier Cellisten – eine wohl weltweit einmalige Kombination. Und auf dem Konzertprogramm stehen ausschließlich Bearbeitungen.

Kein Zweifel: Das GKO verirrt sich in seltsame künstlerische Gefilde. Verirrt? Nun ja, eigentlich werden fast nur Evergreens beim Neujahrskonzert im Ingolstädter Festsaal gespielt. Chefdirigent Ruben Gazarian hat unter dem Titel „Über Grenzen hinaus“ hauptsächlich bekannte Jazzstandards, aber auch Volksliedbearbeitungen und Filmmusik versammelt. Nur klingt diesmal alles ziemlich ungewöhnlich.

Denn die aufgeführten Stücke sind für eine ganz andere Besetzung gedacht: oft für Big Band, manchmal für großes Sinfonieorchester oder auch für eine kleine Jazz-Combo. Man kann darüber streiten, ob man die samtweichen Saxofone des Glenn-Miller-Orchesters bei der „Moonlight Serenade“ unbedingt in einer Streichorchesterfassung erleben möchte. Und natürlich klingen die James-Bond-Melodien mit großem Sinfonieorchester noch wuchtiger, farbiger, genauso wie übrigens auch die gar nicht mal so schlechten Kompositionen des genialen Filmregisseurs Charlie Chaplin. Manchmal wirkt das wie eine Übertragung von Farbbildern ins Schwarz-Weiß. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.

Gerade die klassische Musik hat eine große Tradition der Interpretation. Der Kanon dieser Musik wird seit Jahrhunderten immer wieder und immer wieder anders aufgeführt und gedeutet. Das künstlerische und technische Niveau ist dort inzwischen atemberaubend. Wenn klassisch geschulte Musiker sich nun Werke der Popmusik und des Jazz vornehmen, entsteht meist Ungewöhnliches. Nicht nur, dass klassische Musiker oft mit einer sonst unerreichten Perfektion musizieren; sie gestalten die Werke auch ungewöhnlich originell. Freunde des Jazz schütteln da zwar gelegentlich entrüstet den Kopf. Denn gerade der Groove, das eiserne mikrozeitlich präzise Durchhalten des Rhythmus, entfaltet im Pop und im Jazz oft eine einzigartige Wirkung – was der klassischen Musik mit ihren Temposchwankungen eher fremd ist.

Dennoch: Die Georgier sind hier gar nicht mal so schlecht. Zu Recht lobt der Leiter des Rastrelli Cello-Quartetts, Kira Kraftzoff, hinterher das GKO als „ungewöhnlich grooviges“ Orchester. Aber besonders die interpretatorische Delikatesse, der Reichtum der Details, der Differenzierungen macht Spaß beim Chaplin oder beim „St. Lous Blues“ von William Handy.

Ganz große Kunst entsteht hingegen, wenn die vier Cellisten des Rastrelli-Quartetts über die Saiten streichen. Und zwar besonders, wenn sie ohne Orchester spielen. Unglaublich diese Momente des kaum mehr hörbaren Pianissimo in der Bearbeitung des russischen Volkslieds „Bublichki“. Was für eine Energieentladung bei Bobby Timmons „Moanin“. Und was für hinreißende Soli in „Take five“, das man sonst mit Dave Brubake kennt. Wie schafft es Kira Kraftzoff nur, sein Cello wie eine E-Gitarre heulen zu lassen? Das alles ist die perfekte Verbindung von fast schon überfeinerter klassischer Interpretationskunst mit der Urwüchsigkeit des Jazz. Man spürt dann: Es ist nicht wichtig, mit welchen Instrumenten Musik gemacht wird, ob mit Big Band oder Streichorchester. Es ist nur wichtig, wie gespielt wird, ob die Musiker etwas zu sagen haben.

So lässt sich das Publikum in eine bessere Welt entführen, die nicht immer die Realität ist. Es spricht für den wunderbaren Dirigenten Ruben Gazarian, dass er an einem solchen symbolträchtigen Tag, wie dem Neujahrstag, das Publikum wieder zu erden vermag. Dass er zeigen kann, wie mitreißende und unterhaltsame Musik doch auch politisch relevant sein kann. Vor dem berühmten Louis-Armstrong-Song „What a Wonderful World“, macht er eine Zäsur, spricht ein paar Worte mit dem Publikum, richtet deren Aufmerksamkeit auf die gesellschaftlichen Umwälzungen vor fast fünfzig Jahren, als diese Musik inmitten des Vietnamkriegs und der Rassenunruhen entstand, und erinnert an die politischen Krisen unserer Zeit. Um dann, wie einen utopischen Entwurf, den Song zu dirigieren – überirdisch schön und zugleich seltsam traurig. Was für eine Musik! Das Publikum hält den Atem an und traut sich, nachdem der letzte Ton verklungen ist, kaum zu klatschen.