Es
Liebeswirren

Wie der preußische Staatskanzler von Hardenberg ins Abseits geriet

03.01.2015 | Stand 02.12.2020, 20:21 Uhr

Es ist bemerkenswert, mit welchem Geschick es dem hochbetagten Erzähler Günter de Bruyn bis heute gelingt, Figuren und Ereignisse aus dem adligen Kulturleben Preußens in der Zeit um 1800 lebendig werden zu lassen. Seit Jahrzehnten liefert er Buch für Buch über Schicksale dieser Zeit – mal aus dem Zentrum der Macht, wenn es um „Preußens Luise“ oder gesellschaftliche Verhältnisse in der Straße „Unter den Linden“ geht, mal aus der Peripherie wie in Biografien über die Familie Finckenstein oder Gräfin Elisa.

In der kleinen Monografie „Die Somnambule oder Des Staatskanzlers Tod“ beleuchtet de Bruyn private Züge einer historisch prominenten preußischen Figur: Es geht um die letzten Lebensjahre des Staatskanzlers Karl August von Hardenberg (1750–1822), in welchen sich der einst mächtige, nun aber an Einfluss verlierende Reformpolitiker in die mehr als 40 Jahre jüngere Friederike Hähnel, sein „Fritzchen“, verliebt, wodurch er ins gesellschaftliche Abseits der Aristokratie gerät und, wie de Bruyn seine Quellen interpretiert, wohl auch vorzeitig zu Tode kommt.

De Bruyn untertreibt, wenn er vorgibt, nur „so wahrheitsgetreu wie möglich den spärlichen Überlieferungen nacherzählen“ zu wollen: Er liefert nämlich nichts weniger als eine oft spannende, stets sensible Prosa, die fast Novellencharakter annimmt, wenn er den Leser auf seine Reise in Hardenbergs letzte Lebensjahre mitführt. Dieser lernte die 24 Jahre alte Hähnel im Februar 1816 bei dem jüdischen Arzt und dilettierenden Dichter David Ferdinand Koreff kennen, der an Hähnel die Heilmethode des Mesmerismus praktiziert. Dabei versetzt er sie in einen magnetischen Wachschlaf, in welchem der Patientin sogar hellseherische Fähigkeiten zuwachsen sollen – eine Heilmethode, an deren Kraft auch Geistesgrößen der Zeit wie Wilhelm von Humboldt, Schlegel, Schleiermacher, Jean Paul, Bettina von Arnim oder Rahel Varnhagen glaubten.

Psychologisch einfühlsam zeichnet de Bruyn nach, wie die Verbindung Hardenbergs mit der Hähnel, die der Staatskanzler eine Scheinehe mit einem Herrn von Kimsky eingehen lässt, zur Trennung von seiner Ehefrau Charlotte führt, und den verblendeten Alten zum Spielball der Kabalen seines verschwenderisch-ehrgeizigen Schwiegersohns Hermann Graf von Pückler-Muskau wie seiner konservativen Gegner im Kreis um den König macht. Der äußerst anspruchsvollen und höchst unternehmungslustigen Gespielin hat es Hardenberg wohl auch zu verdanken, dass er auf einer Italienreise körperlich überfordert stirbt. De Bruyn verfolgt weiter die Vita der Frau von Kimsky, die es noch zu unermesslichem Reichtum bringt (hat sie Hardenbergs Diarien teuer an den König verkaufen können) und im Alter ein frommes Büßerleben in Rom führt.

Günter de Bruyn hat für diese Erzählung zahlreiche zeitgenössische Quellen ausgeschöpft, Tagebücher wie fiktionale Texte, wobei er Fakten ebenso wie Tratsch zu Wort kommen lässt, aber jeweils stets nach Glaubwürdigkeit qualifiziert. Entstanden ist ein Buch, das historische Figuren zu lebendigen Protagonisten mit reicher Gefühlswelt macht. Zwei Register, eine Zeittafel und Bibliografie machen das lesenswerte kleine Erzählwerk auch zu einem für Historiker tauglichen Instrument.

Günter de Bruyn: Die Somnambule oder Des Staatskanzlers Tod. S. Fischer Verlag, 151 Seiten, 17,99 Euro.