Ingolstadt
"Kinder sind süchtig nach Geschichten"

Martin Baltscheit hat aus dem Märchen "Frau Holle" ein Theaterstück gemacht Am Samstag ist Premiere in Ingolstadt

08.11.2016 | Stand 02.12.2020, 19:05 Uhr

Ins wundersame Reich von Frau Holle verirren sich die beiden ungleichen Schwestern im Märchen. - Foto: Voigt

Ingolstadt (DK) Es war einmal eine Witwe, die hatte zwei Töchter. Eine Stieftochter, die schön und fleißig war, und eine leibliche Tochter, die hässlich und faul war. Die Mutter bevorzugte ihre faule Tochter und ließ die Stieftochter pausenlos schuften. Eines Tages fiel der Stieftochter dabei die Spindel in den Brunnen und als sie zurückholen wollte, landete sie nach tiefem Sturz im Reich der Frau Holle. Das Mädchen arbeitete für sie und wurde reichlich belohnt. Als es ihr die faule Schwester gleichtun wollte, gab es für sie ein böses Erwachen. Das Stadttheater Ingolstadt hat "Frau Holle" als Wintermärchen auf den Spielplan gesetzt und den bekannten Kinderbuchautor Martin Baltscheit (51) mit der Dramatisierung des Märchens beauftragt. Uraufführung ist am Samstag nach dem Kinderfest, das ein großes "Schneegestöber" verspricht.

 

Herr Baltscheit, Sie sind Comiczeichner, Illustrator, Moderator, Schriftsteller, Sprecher und Schauspieler - was sind Sie davon am liebsten?

Martin Baltscheit: Ich bin Geschichtenerzähler - und da gibt es in meinem Genetikprogramm verschiedene Möglichkeiten. Am liebsten schreibe ich. Aber wenn ich zeichne, dann zeichne ich am liebsten. Wenn ich auf der Bühne stehe, dann möchte ich nirgendwo anders stehen. Und wenn ich im Studio lese, dann empfinde ich das als den großartigsten Beruf überhaupt. Das ist manchmal anstrengend, wenn man sich nicht entscheiden kann. Aber eigentlich auch sehr schön.

 

Haben Sie als Kind gern Märchen gehört?

Baltscheit: Wir haben wie besessen Hörspiele gehört. Meine Schwester und ich haben unsere ganze Kinderspielzeit mit dem Hören von Schallplatten verbracht. Es gibt sicher Geschichten, die wir tausendmal gehört haben. Ich glaube, Kindermenschen brauchen das. Denn bei meinen Jungs - achtjährigen Zwillingen - ist das genauso. Nur wurden Schallplatten, Kassetten oder CDs mittlerweile durch die Tonie-Box ersetzt. Das ist ein Würfel, auf den stellt man eine Figur, und in dem Moment erklingt dieses Hörspiel. Die Jungs haben das Ding überallhin dabei und kuscheln damit. Immer ist jemand bei ihnen, der etwas erzählt. Und wenn die Hörspiele aus sind, dann fragen sie die Mama: "Erzähl doch mal von früher." Oder sie gehen zum Papa: "Lies doch mal ein Buch vor." Sie sind süchtig nach Geschichten. Alle Kinder sind das.

 

Für das Stadttheater Ingolstadt haben Sie aus "Frau Holle" ein Stück gemacht. Was hat Sie daran gereizt?

Baltscheit: Diese Märchen sind ja über Jahrhunderte erzählte Geschichten, die im großen Räderwerk des Erzählens rund und perfekt geworden sind. Alles Überflüssige wurde durch tausendfache Münder weggelassen. Alles Schöne wurde bewahrt. Diese Märchen sind ein Abdruck unserer Seelenzustände. In ihnen stecken große Freude, großes Leid, Liebe, Tod, Angst, Häme, Witz, Humor. Alles, was uns ausmacht. Die Märchen haben sich ja auch selbst ausselektiert. Was übrig bleibt, ist immer das Großartige. Das Mittelmäßige verschwindet.

 

Wie sind Sie an die Aufgabe herangegangen?

Baltscheit: Bei so einer starken, schweren, wichtigen Geschichte ist es ein bisschen wie mit Science-Fiction. Science-Fiction erzählt immer von der Gegenwart und ihren Ängsten, nie von der Zukunft. So ist das mit diesem Märchen: Ich lese es und höre die Figuren atmen und lachen und sprechen. Dann schaue ich, was es in mir auslöst, wie ich es erzählen will. Mit meiner Erfahrung. Jetzt.

 

"Frau Holle" ist eigentlich kurz.

Baltscheit: Märchen sind nie ausformulierte, literarisch entwickelte Geschichten, sondern eigentlich immer nur klug geschriebene Inhaltsangaben. Die Brüder Grimm haben die Kunst beherrscht, sprachlich präzise und objektiv zu sein, ohne zu kühl zu sein. Ich finde, immer wenn man ein Buch liest, ist es so, als würde sich ein Schriftsteller bei einem auf den Schoß setzen. Wenn es ein guter Schriftsteller ist, dann bemerkt man ihn nicht. Wenn es ein eitler Schriftsteller ist, dann riecht man seinen Atem, dann rückt er einem auf die Pelle. Die Brüder Grimm können das, die verschwinden total hinter ihren Geschichten. Das ist großartig, wenn man vor der Aufgabe steht, eine davon fürs Theater zu dramatisieren. Denn in jedem Satz steckt etwas, was man ausbreiten, wo man in die Tiefe gehen kann.

 

Was ist Frau Holle für eine Figur?

Baltscheit: Eine magische Urmutter, eine Schöpferin, eine Zauberin. Aber Frau Holle hat mich gar nicht so interessiert. Ich erzähle die Geschichte der Schwestern. Die Ungleichheit, die da vorherrscht. Meine Kinder sind besessen vom Gerechtigkeitsgedanken. Bei uns wird immer genau geteilt. Und in dieser Geschichte gibt es nun ein Kind, das unglaublich bevorzugt wird. Trotzdem sind es Geschwister, die auch eine Liebe füreinander empfinden. Ich wollte diese Gefühle zwischen den Schwestern ausloten.

 

Wie endet das Märchen bei Ihnen?

Baltscheit: Für mich ist es wichtig, dass es einen versöhnlichen Schluss gibt. Auf dem Weg der Geschichten kann es hart und grausam zugehen, aber das Ende - vor allem, wenn ich für Kinder erzähle - muss versöhnlich sein. Ein offenes Ende ist ein Akt der Feigheit. Ein schlechtes Ende - im Sinne von moralisierend - ist ein Verbrechen. Das Leben schreibt so viele schlechte Enden, das muss ich nicht auch noch in meinen Geschichten tun. Am Schluss muss es Hoffnung geben - und ein großes Durchatmen. Das ist auch das Prinzip der Grimmschen Märchen: Es geht gut aus. Für meine Pech-Marie vielleicht noch ein bisschen besser.

 

Die Fragen stellte Anja Witzke.

 

Premiere am 12. November um 18 Uhr im Stadttheater Ingolstadt. Kartentelefon (08 41) 30 54 72 00.