Heiter und mystisch, konsumkritisch und philosophisch

Gewöhnungsbedürftig, aber erfolgreich: Die 27. Ingolstädter Literarische Nacht findet erstmals online statt

11.05.2020 | Stand 02.12.2020, 11:23 Uhr
Nicht nur von Luft und Liebe, sondern auch von Farben lässt sich leben, erzählt Michael von Benkel in einer Geschichte aus "Das Königreich der Inseln" (oben). Von einem Restaurantbesuch der etwas anderen Art berichtet Cinzia Tanzella. −Foto: Hammerl

Ingolstadt - Das Format ist (noch) ungewohnt.

Entsprechend dauert es etwas, bis sich der Zuschauer auf das Vorgetragene konzentrieren kann. Allein vor dem Bildschirm zu hocken, um die Premiere der Literarischen Nacht online zu erleben, ist schlicht im ersten Moment etwas enttäuschend. Corona macht bewusst, welch große Rolle Atmosphäre und Ambiente in der Kunst spielen. Doch mit der Zeit gelingt es zunehmend, sich darauf einzulassen, und der große Vorteil besteht darin, dass - anders als im echten Leben - die Lesung auf dem Youtube-Kanal und der Facebookseite des Autorenkreises Ingolstadt beliebig oft angesehen werden kann.

Susanne Feiner geht die Coronakrise mit Humor an und fragt nach "Coronas Nachname", versetzt sich in "sie", die oft schnöde nur "das Virus" genannt wird und der - wie Sturmtiefs - der Nachname fehlt, was so steril klinge. Was Corona natürlich hasst. "Das liegt ja auf der Hand", bemerkt Feiner, die mit Fragen nach der Schwarmintelligenz der Menschen schließt. Ob es eine bessere Welt nach Corona gibt?

In eine mystische Welt entführt Linda Sack, die die Geschwister Tobin und Miri in der Wildnis des Kastanienbaums wundersame Farben erleben lässt, die zu einem geheimnisvollen Ritus gehören. Passend zum Text sitzt Sack vor einem grünen Hintergrund, auf dem Bäume schemenhaft zu erkennen sind - eine gelungene Imagination der Wildnis, in die beide Kinder verbotenerweise eingedrungen sind. Jens Rohrers weiße Wand würde so schön zu seinem Vorwort "Nichts" passen, gäbe es da nicht rechter Hand drei stimmungsvolle Bilder von Dünen und Wolken. Absicht oder Zufall? Vermutlich Letzteres, schließlich ist es auch so schon schwierig genug, ein Vorwort zu einem Werk zu verfassen, das es überhaupt nicht gibt. Ein Paradoxon, das Rohrer gekonnt mit weiteren Widersprüchlichkeiten belebt und zu einem philosophischen und zugleich amüsanten Text verwebt. "Es gibt Nichts, das Nichts besser macht", stellt er fest und baut zahlreiche Zitate aus der (Welt)literatur ein - von Scott Fitzgerald über Hegel bis Winnie Puh. Berührende Gedichte "Mein Weg", "Statuen" und "Schamane" schickt Fitnat Ahrens aus häuslicher Quarantäne und "von Herzen" aus ihrer gemütlichen Wohnstube allen Gästen der Lesung.

Heiter, konsumkritisch und höchst ironisch unterhält Susanna Rasch mit "Angebote", einer Geschichte, die kampferprobten Müttern von (ehemaligen) Kleinkindern nur zu gut bekannt sein dürfte: Beginnend mit der Warteschlange vor Öffnung des Discounters über "riskante Überholmanöver" bis zur organisierten Kriminalität vor dem Wühltisch mit Kinderschlafanzügen, wo es verschiedene Methoden zu beobachten gibt, wie sich im Clan die Konkurrenz am besten ausstechen lässt - bis hin zum Überrollt werden vom gegnerischen Einkaufswagen. Wie erholsam klingt direkt anschließend Claudius Konrads sentimentales Lied "Heartbreak Lover"!

Nicht nur von Luft und Liebe, sondern auch von Farben lässt sich leben, zeigt Michael von Benkel in einer Geschichte aus "Das Königreich der Inseln" auf. Louis wird in ein Restaurant geführt, in dem die Kellner als Vor- und Hauptspeise Bilder in herrlichen Farben servieren, an denen sich der Gast "sattsehen" darf - und irgendwann tatsächlich gesättigt ist. Einen ganz anderen Restaurantbesuch lässt gleich darauf Cinzia Tanzella miterleben. "Liebe geht durch den Magen" - oder eben auch nicht, wenn die schwarzgelockte Italienerin mitanschauen muss, wie der blauäugige Philosophiestudent Stefan, mit dem sie endlich ein erstes Date hat, Parmesan auf sein Fischgericht streut oder nach dem Essen im feinen italienischen Restaurant die Todsünde begeht, anstatt eines Espressos einen Cappuccino zu bestellen. Das Entsetzen ist natürlich beidseitig - ihn ekelt es zutiefst an, dass sie das Knochenmark aus ihrem Lammknochen saugt.

Technisch gesehen ein Ausrutscher nach unten ist die Lesung von Martina Funk, die einsam in der Fußgängerzone sitzend vom Osterhasen erzählt, der sich in eine Schokoladenhäsin in einem Schaufenster verliebt hat. Das Bild unscharf, der Ton viel zu leise und von Nebengeräuschen überlagert - schade um eine nette Geschichte und die gute Idee, draußen zu lesen, wo Quarantäne anders, aber ebenso sichtbar wird wie in der heimischen Stube. Insgesamt bieten die acht Künstler unterhaltsame 50 Minuten, die weiterhin im Internet zu finden sind. Reinschauen lohnt sich. Das haben offenbar schon kurz nach der Premiere etliche Kunstaffine mitbekommen. Elf Zuschauer waren es am Samstagabend live - eine gute Stunde später schon mehr als 60 Aufrufe, am Sonntag 88 - in etwa so viele wie üblicherweise zur analogen literarischen Nacht kommen.

DK


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