Augsburg
Das Karussell des Lebens

Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson entdeckt Abgründe in Puccinis "La Bohème" und zündet ein szenisches Feuerwerk

20.01.2013 | Stand 03.12.2020, 0:35 Uhr

Grandiose Szenerie: Sophia Christine Brommer als Mimi in „La Bohème“. - Foto: Schölzel

Augsburg (DK) Womit verbinden wir Puccinis Szenen aus der Pariser Bohemien-Welt? Mit armseligen Dachstuben, eiskalten Händchen und schmachtender Liebesromantik? Wer die Film-Produktion mit Anna Netrebko kennt oder diverse konventionelle Inszenierungen des Stücks, wird das bejahen.

Umso überraschender, dass der isländische Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson gerade in diesem Stück interessante menschliche und soziale Abgründe entdeckt, ohne das Werk dabei in seine Einzelteile zu zerlegen und unkenntlich zu machen, wie in der letzten Spielzeit in seiner umstrittenen „Fledermaus“-Produktion geschehen. Seine Neuproduktion von „La Bohème“ am Theater Augsburg ist ein durchdachtes, nicht provozierendes Stück Regietheater, das sogar erlaubt, in üppigen Bühnenbildern zu schwelgen. Bleiben wir gleich dabei: Die Drehbühne, die auf der einen Seite die Öde der Dachmansarde von Rodolfo und seinen Künstlerfreunden trefflich beschreibt, offenbart auf der anderen Seite wie ein Amphitheater des Lebens die Welt der Träume von einem üppig-bunten Lifestyle inmitten von Vergnügungen und Dauerbespaßung.
 
Ein Jahrmarktkarussell mit bunten Holzpferdchen dreht sich, Weihnachtssterne funkeln, Kellner auf Stelzen bedienen die dekadente Gesellschaft. Das Ganze verdient ein absolutes Sonderlob und ist wohl nicht nur das schönste, sondern auch das interessanteste Bühnen- und Ausstattungsbild (Bühne: Jósef Halldórsson, Kostüme: Filippia Elísdóttir), das man in Augsburg seit Langem gesehen hat. Sozialkritisch ist es übrigens auch noch – wenn die Künstlerfreunde anfänglich unter dem Porträt von Marx die kleine Kunst- und Lebensrevolution proben und im letzten Bild in Samtanzügen, inmitten von herrschaftlichem Mobiliar, dem Erfolg frönen, während das Porträt von Steve Jobs auf sie hinab lächelt. Inmitten dieser Szenerie spielt die Liebesgeschichte von Rodolfo und Mimi, die nicht wie sonst mit erloschener Kerze in sein Leben eintritt, sondern als weibliches Idealbild und lebensechte Plastik vom Künstler Marcello geschaffen und vom Dichter Rodolfo durch Liebe zum Leben erweckt wird.

Doch die ideale Liebe erweist sich als nicht lebenswert – denn Eifersucht, vor allem aber die Unfähigkeit, Verantwortung gegenüber dem Leben wie dem Tod zu übernehmen, trennt das Paar. Wenn Mimi in der letzten Szene auftritt, versucht Rodolfo, sie gewaltsam in die Vitrine des Anfangs zurückzudrängen – denn mit dem künstlerischen Idealbild kann er leichter leben als mit der lebendig gewordenen, kranken Frau. Und so ist Mimis Sterben in Augsburg ein einsames Verlöschen: Ohne von Rodolfo im Schlussakt wirklich beachtet zu werden, besteigt sie das Karussell des Lebens und entschwebt in die Welt, aus der sie anfänglich gekommen war.

Gerade im Schlussakt entwickelte die Produktion übrigens großes orchestrales Format – vor allem, weil Dirigent Gerrit Prießnitz (von der Wiener Volksoper) sich in seinem Augsburger Debüt als feinsinniger, impressionistischer Stimmungsmaler erwies. Gerade die Balance zwischen den leisen Tönen und den aufblühenden großen Linien ist seine Sache – und die Augsburger Philharmoniker folgten ihm hoch konzentriert. Was übrigens vom Rest des Ensembles auch in Sachen Gesang zu vermerken ist: Besonders die großen, nicht einfachen Chor- und Kinderchorszenen (Choreinstudierung Katsiaryna Ihnatsyeva-Cadek) im zweiten Akt gelangen beachtlich.

Unter den Protagonisten waren am Premierenabend drei Stars auszumachen: Zum ersten Sophia Christine Brommer, die als Mimi anfangs zurückhaltend war, dann aber ab dem dritten Akt zu großer, berührender Form fand – gefolgt von Dong-Hwan Lee als überragend singendem wie gestaltendem Marcello. Zurecht gefeiert wurde auch Cathrin Lange als ausdrucksstark-kokette Musetta, die mit leuchtenden Koloraturen um sich schleuderte, dass es eine helle Freude war. Neben diesem Dreigestirn nahm sich Tenor Ji-Woon Kim, in Augsburg schon häufig mit Sternstunden zu hören, diesmal etwas blass aus. Die Stimme blieb in der Partie des Rodolfo eng, wollte sich nicht zur großen Kantilene weiten. Auffallend nicht zuletzt mit seiner kurzen, aber berührenden Mantel-Arie Vladislav Solodyagin als Philosoph Colline.

Insgesamt ein musikalisch gelungener Abend voller Inspirationen zum Nach- und Weiterdenken, der lange beklatscht wurde.