Salzburg
Antiker Mythos als Thriller von heute

Herausragend: Simon Stones moderne Version von Cherubinis Ehetragödie "Médée"

31.07.2019 | Stand 02.12.2020, 13:22 Uhr
Flippig und hochdramatisch auf unsere Zeit übertragen: Szene mit Elena Stikhina als Médée und Pavel Cernoch als Jason. −Foto: Aurin

Salzburg (DK) Welch eine großartige Aufführung. Welch eine rasante musikalische Wiedergabe. Vor allem jedoch: Welch eine hinreißende Interpretation der Titelpartie durch die russische Sopranistin Elena Stikhina, die - wie Anna Netrebko 2015 und Asmik Grigorian im letzten Jahr als Salome - von Salzburg aus nun zu ihrer Weltkarriere durchstarten und mit weiteren Angeboten der renommiertesten Opernhäuser überhäuft wird.

Eine atemberaubende Stimme und eine Bühnenpräsenz, die elektrisiert.

Wer Opern mit Sagen aus der griechisch-antiken Mythologie altbacken findet und darüber die Nase rümpft, dem zeigt der Regisseur Simon Stone bei dieser Neuinszenierung, wie spannend Luigi Cherubinis Oper "Médée" aus dem Jahre 1797 sein kann, wenn sie so flippig und hochdramatisch auf unsere Zeit übertragen wird. Zur turbulenten Ouvertüre ein Video einer ach so heilen Familie: ein cooles junges Paar mit zwei netten kleinen Kindern. Verliebt und glücklich die Eltern, ein Herz und eine Seele die Buben. Médée und Jason mit ihren zwei Söhnen. Eine Familie wie aus dem Homestory-Journal. Nicht kitschig, aber durchaus anrührend.

Dass Médée, die Tochter des kolchischen Königs, mit ihren Zauberkünsten dem Abenteurer Jason geholfen hat, das sagenumwobene und mit der Aura von unumschrämkter Macht versehene Goldene Vlies nach Griechenland zu bringen, mag dabei freilich nur Altphilologen und Absolventen Humanistischer Gymnasien interessieren, obwohl es hier im Gesang natürlich thematisiert wird. Dann Vorhang auf: Jason hat Médée verlassen und die Hochzeit mit Dircé, Tochter des Königs Kreon von Korinth steht bevor. Auf der dreigeteilten Cinemascope-Bühne des Salzburger Großen Festspielhauses eine Edelboutique (von Bob Cousins): Brautkleider ohne Ende, in allen Größen und in den ausgefallensten Kreationen. Dazu Dircés Freundinnen und die große Schar von Modeberaterinnen samt Visagistinnen und Beauty-Influencertinnen in den schicksten Klamotten (Kostüme: Mel Page). Schließlich ist diese Eheschließung ja auch ein Jahrhundertevent für die Schickeria von Korinth. Schließlich Erwerb einer luxuriösen Villa am See mit Bergblick samt einer "Schöner Wohnen"-Einrichtung durch das Brautpaar und Jasons Junggesellenabschied mit seinen Freuden in einem Striplokal - und dann der Crash: Médée wird auf Veranlassung von Kreon aus Korinth ausgewiesen, in ihre Heimat Kolchis abgeschoben. Die Kinder bleiben bei Jason.

Verzweifelt sitzt sie in einem tristen Internetcafé, wo sie ihre Kinder wenigstens auf dem Bildschirm sehen kann, die Telefonate mit Jason, um sich auszusprechen, kommen nicht zustande. Auf eigene Faust versucht sie nach Korinth zurückzukehren, wird am Airport wegen fehlender Einreisepapiere jedoch zurückgehalten. Wutentbrannt beklagt sie vor Fernsehkameras ihr Schicksal. Eine Szene, die Médées Vertraute Néris (Alisa Kolosova), die in Jasons Haushalt geblieben ist, im TV schockiert verfolgt. Für einen Tag erlaubt ihr Kreon dann doch, ihre Kinder sehen zu dürfen. Der Plan der Ermordung ihrer Nebenbuhlerein Dircé und von Kreon bei der Hochzeitsfeier wird dabei in die Tat umgesetzt. Ihre Kinder packt sie daraufhin in ihr Auto und brettert in einem Video in der Mordnacht über Landstraßen, während Gewitter ganz symbolisch am Horizont sich entladen. Dann wieder live auf der Bühne: Stopp bei einer Tanke. Letzte Liebkosungen.

Schließlich tabula rasa: Aus Rache an Jason und dessen unbarmherzigen Vater gießt sie Benzin über ihr Auto und zündet es an, um die Kinder und sich selbst ins Jenseits zu befördern. Dazu jagt der Dirigent Thomas Hengelbrock bei diesen Schlussakkorden die fulminant spielenden Wiener Philharmoniker geradezu ins Gigantische. Ein Finale furioso, das ebenso wie die gesamte Aufführung in ihrer musikalischen Expressivität und ihrer spannungsreichen Darstellung als zeitgenössischer Thriller ganz gewaltig unter die Haut geht.

Mögen die schier überbordende Bilderflut und die noch größere Detailfreude beim Gewusel der Personen auf der Bühne mit dem prachtvoll singenden Wiener Staatsopernchor und den über 30 Statisten ebenso wie einige Videoeinblendungen etwas zu üppig ausgefallen sein, so sind die sängerischen Leistungen dieser vom Premierenpublikum frenetisch bejubelten Neuinszenierung großartig: Elena Stikhinas wunderschöner dramatischer Sopran und ihre herrlich perlenden Koloraturen als Médée sind hinreißend und ein einziger Hörgenuss. Dazu Vitalij Kowaljow mit gepflegtem Bassbariton als herrschsüchtiger Kreon und Rosa Feola als dessen Tochter Dircé mit strahlendem Sopran. Nur Pavel Cernoch als Jason zeigte in den tenoralen Höhen einige Schwächen.

Doch Elena Stikhina in der Titelpartie der zunächst hingebungsvoll liebenden, schließlich gedemütigten und in ihrer Ehre verletzten Frau, die zur Mörderin und Selbstmörderin wird, ist der absolute Star dieser ebenso flippigen wie hochdramatischen, in jeglicher Beziehung hinreißenden Festspielaufführung.

ZUM STÜCK


Theater: Salzburg, Großes Festspielhaus
Musikalische Leitung:Thomas Hengelbrock
Regie:Simon Stone
Bühne:Bob Cousins
Kostüme:Mel Page
Nächste Aufführungen:4., 7., 10., 16. und 19. August
Kartentelefon:(0043) 662-8045-500