Karlsruhe
Ein Tiefpunkt für die bayerische Justiz

Verfassungsgericht zerpflückt Beschlüsse über Gustl Mollath – Bundesjustizministerin will ihn treffen

05.09.2013 | Stand 02.12.2020, 23:42 Uhr

Karlsruhe/Ingolstadt (DK) Ohrfeige und Watschn sind keine juristischen Kategorien. Dennoch zeigt das gestern veröffentlichte Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Fall Mollath, wie sehr sich die bayerische Justiz selbst beschädigt hat.

Die kürzlich beendete siebenjährige Zwangsunterbringung des Nürnbergers Gustl Mollath in der Psychiatrie hat nun nachträglich dazu geführt, dass das Bundesverfassungsgericht der bayerischen Rechtsprechung in diesem Fall ein demütigendes Zeugnis ausgesprochen hat. Die Beschlüsse des Landgerichts Bayreuth und des Oberlandesgerichts Bamberg aus dem Jahr 2011 verletzen den Beschwerdeführer – also Mollath – „in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person“, heißt es in dem Urteil.

„Das ist eine große Watschn für die bayerische Justiz, zumindest für die tätig gewordenen Richter und Staatsanwälte in meiner Sache - und darüber hinaus für den Gutachtenerstatter“, sagte Mollath der Nachrichtenagentur dpa. Für ihn gehe die Auseinandersetzung dennoch weiter: „Es ist noch nicht einmal die Hälfte vorbei. Es ist jetzt höchstens eine Freiheit der dritten Klasse.“

Für Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) ist Mollath zum nicht enden wollenden politischen Albtraum geworden. Sie vertraute lange auf ihre Fachleute in Ministerium und Justizapparat. Die versicherten ihr, es sei alles richtig gelaufen. Mollath sei eingewiesen worden, „weil er krank und für die Allgemeinheit gefährlich war“, betonte Merk noch kurz vor ihrem Schwenk im November 2012. Mollath kam 2006 in die Psychiatrie, weil er seine Frau misshandelt und Autoreifen zerstochen haben soll.

Inzwischen hat sich gezeigt, dass in diesem Fall von den Anfängen vor zehn Jahren bis heute eigentlich fast gar nichts richtig lief. „Eine Schande für die Ministerin“, nennt Grünen-Fraktionschef Martin Runge den Karlsruher Beschluss.

Die Begründung der Richter läuft auf ein auch für Nichtjuristen leicht erkennbares Argument hinaus: Sie bescheinigen sowohl dem Landgericht Bayreuth als auch dem Oberlandesgericht Bamberg, sich mit dem Fall nur sehr oberflächlich befasst zu haben – ohne näher zu prüfen, ob Mollath überhaupt gefährlich war, und ohne entlastende Umstände für den 56-Jährigen auch nur in Betracht zu ziehen.

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger lobt den Beschluss. „Als jemand, der sich seit vielen Jahren in unserem Rechtssystem bewegt, muss ich sagen: Gott sei dank haben wir das Bundesverfassungsgericht, das da die Reißleine zieht“, sagt sie unserer Zeitung. Sie wolle das Verhalten der bayerischen Richter weder bewerten noch kritisieren, betont die Ministerin – und wird dann trotzdem sehr deutlich: „Sieben Jahre in der Psychiatrie – das war einfach zu lang.“

Für die bayerische Justiz ist der Fall ein Desaster. Auch im Untersuchungsausschuss des Landtags wurde deutlich, wie lässig Staatsanwälte und Richter Mollath von Beginn an behandelten: Seine Schwarzgeldanzeige gegen Mitarbeiter der HypoVereinsbank wurde 2003 nicht genau geprüft. Er landete schon vor dem Urteil von 2006 zwischenzeitlich in der Psychiatrie und wurde rechtswidrig erst Wochen später über den Grund informiert. Der Vorsitzende Richter prüfte 2006 auch nicht das Attest, mit dem Mollaths Ex-Frau ihre Verletzungen beweisen wollte. Einen zweifelsfreien Beweis, dass Mollath die Reifen mehrerer Dutzend Autos zerstochen hatte und damit für die Allgemeinheit gefährlich geworden war, gab es nicht.

Das Münchner Justizministerium pochte bis zum November 2012 monatelang darauf, es sei doch alles rechtsstaatlich korrekt zugegangen. Erst nachdem Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) sich eingeschaltet und die „Nürnberger Nachrichten“ über die mögliche Befangenheit von Mollaths Richter berichtet hatten, schwenkte Merk um. Nun versucht die Ministerin, den Karlsruher Beschluss positiv zu sehen: „Richter kontrollieren Richter. Auch in diesem Zusammenhang hat man gesehen, dass diese Kontrolle der Gerichte funktioniert.“

In der Bevölkerung hat der Fall Mollath weit größere Unruhe ausgelöst als die Verwandtenaffäre im Landtag. Viele Bürger haben den Eindruck, dass die bayerische Justiz in alter obrigkeitsstaatlicher Tradition Bürger ziemlich nonchalant wegsperrt – und dass das weitere Schicksal der Betroffenen den Richtern anschließend möglicherweise herzlich egal ist.

Merk erhält derweil ein wenig indirekten Zuspruch von ihrer Amtskollegin im Bund. Grundlegende Strukturprobleme in der bayerischen Justiz sehe sie nicht, sagt Leutheusser-Schnarrenberger. Die FDP-Politikerin will nun schnell das Unterbringungsgesetz verbessern. Und sie will sich mit Gustl Mollath treffen, wenn die Wahl vorüber ist. „Ich möchte seine Sicht der Dinge hören“, sagt sie. Für Politiker und Juristen könne das Gespräch mit einem Betroffenen „sehr aufschlussreich“ sein.