Jürgen Müller will seine Medaille nicht mehr

Fränkischer Lebensretter gibt Auszeichnung aus Protest gegen das Massensterben im Mittelmeer zurück

06.12.2019 | Stand 23.09.2023, 9:47 Uhr
Am Montag fährt er nach München: Der Mittelfranke Jürgen Müller will in der Staatskanzlei seine Lebensretter-Medaille zurückgeben. −Foto: privat

Nürnberg - Jürgen Müller: Der Name steht wohl fast in jedem Telefonbuch.

Doch der Jürgen Müller aus Eckental bei Nürnberg, um den es hier geht, hat in seinem Leben schon zweimal außerordentlichen Mut bewiesen. Im Jahr 2006 rettete Müller bei einer Kanu-Fahrt ein Kind aus dem Fluss Regen vor dem Ertrinken. Nun will er ein Zeichen gegen das Ertrinken von Flüchtlingen im Mittelmeer setzen und die Lebensretter-Auszeichnung zurückgeben, die ihm der Freistaat nach seiner Heldentat im Jahr 2007 verliehen hat.

Damals hatte Müller aus Respekt vor den Angehörigen der Opferfamilie - bei dem Bootsunglück kam ein Mann ums Leben - noch auf Öffentlichkeit verzichtet. Jetzt sucht der 55-jährige Familienvater ganz bewusst genau diese Öffentlichkeit, um Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten. Am Montag hat Müller einen Termin in der Staatskanzlei. Der Leiter der weiß-blauen Regierungszentrale, Staatsminister Florian Herrmann (CSU), habe ihn in die Landeshauptstadt gebeten, sagt Müller. Mitten im Machtzentrum der bayerischen Politik könne er über Flüchtlinge im Allgemeinen und deren Ertrinken im Besonderen debattieren. Und nebenbei dem Freistaat die Medaille und die Urkunde vielleicht in einer dramatischen Geste auf den Schreibtisch knallen, die er kürzlich erst wieder in einer verstaubten Schatulle entdeckt hat.

Konkrete Vorschläge für weniger Tote im Mittelmeer wird Müller übrigens nicht nach München mitbringen. "Ich bin kein Politiker. Ich bin Ingenieur", sagt er. Was den Franken antreibt, ist Kritik am Verhalten des Staates. "Tatenlos" lasse dieser Bootsflüchtlinge im Meer untergehen. München, Berlin, Brüssel: Die Regierungen würden unisono wegsehen, wenn Menschen auf den Fluchtrouten ihr Leben lassen.

Müller will dem Staat am Montag eine einfache Frage stellen: Warum werden Lebensretter hier in Bayern ausgezeichnet und Seenotretter dort im Mittelmeer nicht? Oder noch einfacher ausgedrückt: Warum sind Menschenleben hier wichtig und dort nicht?

In seiner Kernfrage schwingen nicht nur Immanuel Kant und dessen Qualitätsanforderungen an menschliche Handlungsmaximen mit. Als Echoschall klingt darin auch der Protest einer kleinen Schwedin wider, die irgendwann damit begonnen hat, jeden Freitag die Schule für das Klima zu schwänzen. Schwänzen wird Müller am Montag die Arbeit nicht. Soweit geht sein Aufstand nicht. Er will ganz brav Urlaub nehmen und mit dem Zug nach München fahren.

In der Wahl des Verkehrsmittels unterscheidet sich Müller von der Greta-Generation nicht so sehr. In Fragen der Haltung ebenfalls nicht. Müller wie Thunberg scheinen sich Stéphane Hessel zum Vorbild genommen zu haben. Der französische Widerstandskämpfer hat die Leser in seinem 2010 erschienen Pamphlet zu einer engagierten Lebenshaltung aufgefordert. Jedermann findet laut Hessel einen Grund zum (gewaltlosen) Widerstand.

Nach einem Thema für seinen sozialen Ungehorsam hat Müller nicht lange suchen müssen. Erlebtes und Empfundenes verweben sich bei ihm im Trauma des Ertrinkens. Hier die persönliche Rettung des Kindes aus dem eiskalten Fluss. Dort die Fassungslosigkeit über das Massensterben im Mittelmeer. Obwohl die Zahl der Ankünfte über die Mittelmeerroute seit 2016 stark gesunken ist (2016: 373652 Menschen; bis September 2019: 80800 Menschen), bleibt der Weg über das Mittelmeer laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) die "tödlichste Seeroute der Welt". In diesem Jahr haben laut UNHCR bereits 1041 Menschen die Flucht über das Mittelmeer mit dem Leben bezahlt.

Mit den vielen Ertrunkenen will sich Müller nicht abfinden. Er will, dass keiner ertrinken muss. Nicht hier im Fluss, und nicht dort im Mittelmeer. Was wird Staatskanzleichef Herrmann ihm wohl antworten? Das muss Spekulation bleiben, weil die Staatskanzlei offiziell nur die Möglichkeit der Urkundenrückgabe bestätigen will - nicht aber das Treffen selbst.

Jürgen Müller will am Montag auch ohne konkrete Lösung im Gepäck an das Gewissen der Politik appellieren. Nach seinen Vorstellungen müsste der Staat drängende Probleme "optimistischer" (sprich schneller und ohne zu zögern) angehen. Müller will aus Europa weder eine Festung machen noch den Flüchtlingen eine Brücke bauen. Er scheint nur den Dauerstreit endgültig leid zu sein. Müller will endlich Taten sehen.

Nikolas Pelke