„Die emotionale Schutzschicht ist sehr dünn“

04.07.2018 | Stand 02.12.2020, 16:08 Uhr
Gabriele Schleuning hat die psychiatrische Ambulanz im Atrium-Haus wesentlich mitgeprägt. −Foto: kbo

Gabriele Schleuning hat rund 45 Jahre in der Psychiatrie in München-Haar gearbeitet. Sie begann dort 1973 als Praktikantin im Medizinstudium, später wurde sie Chefärztin. Jetzt geht die 65-Jährige in den Ruhestand und erzählt aus ihrem wechselhaften Berufsleben.

Frau Schleuning, was hat Sie vor 45 Jahren am Beruf des Psychiaters gereizt?

Gabriele Schleuning: Bestimmt auch die Tatsache, dass es in meiner Familie psychische Erkrankungen gab. Ich erinnere mich gut, wie meine Großmutter uns über den schon verstorbenen Großvater erzählte und dass der immer mit dem offenen Himmel gesprochen hat. Das klang bei der Großmutter liebe- und respektvoll, überhaupt nicht bedrohlich. Insofern waren mir bizarre Verhaltensweisen durchaus vertraut. Später, als junges Mädchen in Prien am Chiemsee, dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin, habe ich dann auch bald den Kontakt zu Menschen gesucht, die anders waren.

Ihr Leitgedanke lautet: Behandeln auf Augenhöhe. Was bedeutet der genau?

Schleuning: Im Gegensatz zu früheren Konzepten setzt diese Haltung nicht auf eine hierarchische Beziehung zwischen Arzt und Patient. Der Arzt versucht nicht mehr, die Patienten „umzudrehen“. Denn oft wissen die Betroffenen selbst am besten, woran sie leiden. Und wir Ärzte tragen unser professionelles Wissen bei, um gemeinsam mit den Patienten das bestmögliche Therapiekonzept zu erstellen – man könnte auch sagen „verhandeln statt behandeln“.

Das ist ein gutes Stichwort – der Wandel in der Psychiatrie. Beginnend mit Ihrem ersten Praktikum als Studentin in Haar, 1973, bis zu Ihrem Ruhestand jetzt waren Sie fast 45 Jahre in diesem medizinischen Fachbereich tätig. Wie hat sich diese Welt seither verändert?

Schleuning: Als ich 1973 das erste Mal eine Psychiatrie betrat, sah es dort tatsächlich noch fast so aus wie im Film „Einer flog über das Kuckucksnest“ von Milos Forman: Säle mit je 20 Patienten, viele davon in ihren Betten fixiert. Die Toilette befand sich mitten im Raum hinter einem Holzverschlag. In erster Linie waren die Einrichtungen noch Verwahranstalten, bei der Behandlung wurde vor allem auf Medikamente gesetzt. 

Gab es auch noch Elektroschocks?

Schleuning: Ja, aber die gibt es auch heute noch und leider stehen sie aufgrund mancher Darstellungen in Filmen in keinem guten Ruf. Das beginnt schon beim Namen, der fachlich korrekte Begriff lautet Elektrokrampftherapie. Sie sind sicher nicht die erste Wahl in der Behandlung, aber bei manchen Menschen, beispielsweise mit sehr schweren Depressionen, die auf nichts anderes ansprechen, sind sie eine Möglichkeit, um den Menschen für eine gewisse Zeit etwas Erleichterung zu bringen. Man könnte sagen, das ist wie bei einem Ertrinkenden, dem man die Möglichkeit gibt, endlich einmal wieder Luft zu schnappen.

Wie kamen Sie persönlich als junge Medizinerin mit diesen Umständen in den Kliniken zurecht?

Schleuning: Nach zwei Jahren in Haar haben mich die Zustände zu sehr erschüttert und ich bin für ein Jahr an eine Klinik nach Rom gegangen. Italien war damals eines der fortschrittlichsten Länder Europas in der Versorgung von psychisch Kranken. Fasziniert und überzeugt hat mich beispielsweise das Modell der Stadtteilambulanzen. Das habe ich später, Anfang der 1990er-Jahre, bei der psychiatrischen Ambulanz des Atrium-Hauses – zu dessen Konzept ich wesentlich beigetragen habe –, mit aufgegriffen. Vorher gab es in München praktisch keine ambulanten Möglichkeiten für Patienten in akuten Krisen. Mir war es wichtig, dass auch der Mensch mit einer psychischen Erkrankung das Recht und die Möglichkeit hat, inmitten der Gesellschaft zu leben und nicht isoliert zu werden. Und dass jemand rund um die Uhr für die Kranken da ist, 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr.

Wie hat sich die Psychiatrie insgesamt geändert seither?

Schleuning: Die entscheidende Weichenstellung geschah 1975 durch die vom Bundestag eingesetzte Psychiatrie-Enquete. In dieser Kommission wirkten viele angesehene deutsche Psychiater mit und es ging darum, die Missstände in den Kliniken offenzulegen; das passierte alles im Nachgang der vielfältigen gesellschaftlichen Veränderungen seit 1968. Letztlich waren die von den Experten vorgeschlagenen Änderungen sehr umfangreich; die Empfehlungen umfassen zwei dicke Bücher von je rund 700 Seiten.
 

Und was waren die wichtigsten Maßnahmen?

Schleuning: Fortan galt zum Beispiel das Prinzip „ambulant vor stationär“. Und die Stationen sollten nicht mehr isoliert in großen „Anstalten“ sein, sondern Abteilungen der ganz normalen Krankenhäuser. Und nicht zu groß. Auch der Umgang mit den psychisch Kranken hat sich verändert, nicht zuletzt wegen eines neuen Verständnisses von Gesundheit und Krankheit. Das sogenannte bio-psycho-soziale Krankheitsmodell hat den Patienten nicht mehr reduziert auf einen möglicherweise gestörten Transmitterhaushalt im Kopf, sondern beachtet auch die psychischen und sozialen Anteile in seinem Leben. Früher gab es in den Kliniken fast nur Ärzte und Pfleger, fortan wurden in die Behandlung auch Psychologen, Sozialpädagogen, Kunst-, Musik- und Bewegungstherapeuten eingebunden. Es wurden verschiedene Sichtweisen auf den kranken Menschen zusammengetragen zu einem ganzheitlichen Blick und einem ganzheitlichen Behandlungsansatz.

Gab es dagegen auch Widerstand?

Schleuning: Und ob! Die beharrenden Kräfte. So manche Ärztlichen Direktoren, Ordinarien an den Hochschulen und auch leitenden Pflegekräfte, die an den traditionellen hierarchischen Methoden festhalten wollten, nach dem Motto „Wenn der Patient nicht pariert, dann darf er eben nicht mit den anderen in den Garten an die frische Luft“.

Viele Kritiker haben damals damit argumentiert, dass von einigen psychisch Kranken Gefahr für das medizinische Personal oder die Allgemeinheit ausgeht – wie haben Sie das erlebt, wurden Sie auch mal bedroht?

Schleuning: Nein, glücklicherweise habe ich mich nie durch einen Patienten bedroht gefühlt. Aber wenn – und das kommt durchaus vor – von einem Patienten eine Gefahr ausgeht, dann hängt das auch damit zusammen, dass diese Menschen eine besonders hohe Sensibilität haben, eine extreme Feinfühligkeit. Die emotionale Schutzschicht ist sehr dünn. Und das ist der Grund, warum sie sich oft schneller bedroht fühlen. Sie werden also nicht gewalttätig, um anderen bewusst zu schaden, sondern weil sie selbst Angst haben – eine aus ihren störungsbedingten Vorstellungen herrührende Angst. Sie können Todesgefahr empfinden, wo objektiv überhaupt keine besteht. Und dann schlagen sie womöglich in ihrer Verzweiflung um sich.

Sie haben den Beruf trotzdem nie als Belastung empfunden?

Schleuning: Nein, den Beruf selbst nicht. Psychiatrie ist mein Lebensthema. Ich bin nie an meinen Patienten verzagt, auch wenn sie manchmal anstrengend waren. Ich habe in den vielen Jahren nie einen von ihnen boshaft oder berechnend erlebt. Ich habe sicherlich viel menschliches Leid gesehen, aber ich habe auch von den Kranken unendlich viel Dankbarkeit zurückbekommen. Außerdem hatte ich immer meine Kraftquellen, meine Familie, meine Freunde, die Berge, die Kunst und Musik, das Reisen. Wohl aber habe ich mich gelegentlich geärgert über die Bürokratie in den Kliniken und auch über die Vorgaben der Gesundheitspolitik.

Die Fragen stellte André Paul.