Bayreuth
Aufbruch ins Ungewisse

Eine überraschend schnelle Gerichtsentscheidung bringt Gustl Mollath die Freiheit, jetzt muss er sich erst einmal zurechtfinden

06.08.2013 | Stand 02.12.2020, 23:49 Uhr

Bayreuth (AFP) Gustl Mollath trägt ein seltsames Bäumchen in der Hand, es hat die Blätter einer Dattelpalme und eines Orangenbaums. Er habe die Pflanze in den siebeneinhalb Jahren in der Psychiatrie aus Kernen selbst gezogen, sagt Mollath, als er gestern um 17.34 Uhr die Bayreuther Anstalt verlässt. Für ihn ist der Erfolg dieser Zucht ein Zeichen: „Wenn man will, kann man vieles durchstehen.“

Als das Oberlandesgericht (OLG) Nürnberg gestern am späten Vormittag die unverzügliche Freilassung des 56-jährigen Mollath anordnete, traf diesen das vollkommen unvorbereitet. Er sei in seinem Zimmer gewesen, ein Anwalt des Krankenhauses habe ihm die Information überbracht.

Die Entscheidung des Oberlandesgerichtes Nürnberg kam zu diesem Zeitpunkt nicht nur für Mollath überraschend. Sein Anwalt Gerhard Strate machte aus seinem Erstaunen über das Tempo keinen Hehl, mit dem die Richter seine Beschwerde gegen eine Entscheidung des Landgerichts Regensburg von Mitte Juni bearbeiteten. „Dem OLG liegt ja noch nicht einmal meine Begründung vor“, wunderte er sich. Mehr als die Eile erstaunte allerdings Juristen wie Politiker die Klarheit der OLG-Entscheidung, die auf einem einzigen von einem halben Dutzend Argumenten für ein Wiederaufnahmeverfahren fußt: einem zweifelhaften Attest. In dem seit Monaten mit Schärfe betriebenen Tauziehen um seine Person halfen Mollath zwei zu klein geratene Buchstaben. Ein Assistenzarzt hatte bei Mollaths Ex-Frau Misshandlungen festgestellt und darüber ein Attest ausgefüllt. Dies trug aber den Namen der Praxisinhaberin – mit bloßem Auge nicht lesbar setzte der Mann ein „i. V“ für „in Vertretung“ vor die Unterschrift. Mit dem Attest wurden Mollaths damaliger Frau Verletzungen bescheinigte, die angeblich von Misshandlungen herrührten. Statt sich in juristische, von Laien unverstandene Feinheiten zu versteigen, sprechen die Richter Klartext; sie stufen das Attest klipp und klar als „unechtes Dokument“ ein. Damit zeichnet sich ab, dass eine zentrale Säule von Mollaths Verurteilung von 2006 wegbrechen dürfte, wenn der Fall wiederaufgerollt wird.

Tempo und Stil erwecken den Eindruck, als ginge es dem OLG-Senat nicht nur um eine Entscheidung in der Sache, sondern auch um ein klares Signal in Sachen Rechtsstaatlichkeit. Denn die hatten zuletzt viele Bürger im Zusammenhang mit dem Fall Mollath infrage gestellt. Immer lauter wurden die Zweifel am Sinn von Mollaths Zwangsunterbringung.

Mollaths nächste Zukunft steckt nun voller ungeklärter Fragen. „Ich muss mich jetzt erst einmal orientieren“, sagte er. Zwei Freunde kamen in die Psychiatrie, um ihn abzuholen. Dass er bei einem von den beiden zunächst Unterschlupf finden wird, wollte Mollath nicht bestätigen. Wo er die erste Nacht verbringen werde, wisse er nicht. Er habe eine ganz andere Sorge: „Ich kann mich noch nicht einmal ausweisen.“ Bei seiner Einweisung im Jahr 2006 wurden ihm die Papiere abgenommen – neue habe er noch nicht erhalten.

Von den vielen Unterstützern, die im Internet wortreich für Mollath argumentiert hatten, war gestern eine Handvoll vor der Psychiatrie. Auch sie diskutierten, wie Mollath nun wohl leben wird. „Notfalls kann er mit zu uns nach Hause“, sagte eine Frau. Und eine andere ergänzte: „Wir würden auch ein Zelt für ihn im Garten aufstellen.“

Falsche Versprechungen von richtiger Hilfe zu unterscheiden dürfte für Mollath eine der großen Aufgaben der nächsten Zeit werden. Und er droht nun womöglich in andere Fänge zu geraten: In knapp sechs Wochen wird in Bayern der nächste Landtag gewählt. Schon jetzt steht fest, dass Mollath eines der großen Wahlkampfthemen ist. Direkt nach Beschluss der Freilassung starteten Regierung und Opposition ihre PR-Maschinen.

Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) sagte, „ich bin jetzt zufrieden“. Er habe seit Monaten nach der Verhältnismäßigkeit des Falles gefragt – nun hoffe er, dass alles ordentlich aufgearbeitet werde. Seine Justizministerin und Parteifreundin Beate Merk machte die Freilassung sogar zu ihrem eigenen Erfolg: „Mein Ziel, dass ich mit dem Wiederaufnahmeantrag und der sofortigen Beschwerde verfolgt habe, den Fall neu aufzurollen, ist erreicht.“

Dass die CSU den Fall lange nicht ernst genommen hat und Merk dem Verdacht ausgesetzt ist, im Landtag die Unwahrheit über die Ermittlungen gegen Mollath gesagt zu haben, wollte von den Christsozialen niemand erwähnen. Dass übernahm dafür die Opposition. „Geschichtsklitterung“ warf SPD-Spitzenkandidat Christian Ude Merk vor. Die Freien Wähler forderten Merks Rücktritt.

Mollath hat dieses Wahlkampfgetöse noch nicht erreicht. Er freue sich nun nur auf Mittwoch, 7. August 2013, den ersten kompletten Tag in Freiheit seit dem Jahr 2006: „Ich stelle ihn mir schön vor.“

Der Fall Gustl Mollath liefert auch Stoff für einen Film: Die Folge „Meuffels Schuld“ aus der ARD-Krimireihe „Polizeiruf 110“ sei davon inspiriert, teilte der Bayerische Rundfunk gestern mit. Mitte 2014 sollen die Dreharbeiten mit Matthias Brandt als Kommissar Hanns von Meuffels beginnen. Der Münchner Polizist bringt darin mit seinen Ermittlungen einen Mann in die Psychiatrie. Als der Patient nach langer Zeit freikommt, hat der Kommissar ein seltsames Gefühl. Er glaubt, dass seine Ermittlungen missbraucht wurden, um den Mann aus dem Weg zu schaffen.