Pfaffenhofen
"Die Sucht tötet alles"

08.08.2019 | Stand 23.09.2023, 8:07 Uhr
Die Eheringe erinnern Rainer an seine Frau, die 2014 an Krebs gestorben ist. "Ich hab' dieser Frau sehr viel zu verdanken, mein Selbstbewusstsein vor allem. Nur drei Tage sind zwischen der Diagnose und ihrem Tod vergangen." −Foto: Csapó

Für Suchtkranke sind selbst alltägliche Dinge beschwerlich. In Pfaffenhofen bekommen sie Hilfe. Dennoch bleibt es ein lebenslanger Kampf um Normalität.

Pfaffenhofen (PK) Kletterpflanzen hängen aus Töpfen an der Decke, die Wände sind in kräftigen Farben gestrichen, in der Ecke steht ein Plastiktopf mit Kleingeld, in den Schränken sind Engelsfiguren fein säuberlich aufgereiht. "Das ist mein Reich", sagt Sara, die in Wirklichkeit anders heißt. Sie wohnt seit 1993 in dieser Wohnung. Die 51-Jährige ist eine Frau, der man ihr Alter nicht unbedingt ansieht. Sie wirkt tatkräftig, trotzdem sind die Spuren der Sucht nicht unsichtbar geblieben. Sara ist zuckerkrank, eine Niere funktioniert nicht mehr richtig. "Und der Fuß macht sowieso, was er will, da habe ich kein Gefühl mehr", erzählt sie.

Fast zehn Jahre ist sie beim Betreuten Einzelwohnen (BEW) von Prop. Der Verein ist eine Anlaufstelle für Menschen mit Suchterkrankungen. Heute ist Sara trocken - nach jahrzehntelanger Alkoholsucht. "Ich kannte es nicht anders", erzählt sie. Ihr "Pap" habe immer viel getrunken, die Mutter war krebskrank ans Bett gefesselt. Die Familie kommt aus Geisenfeld, zieht später nach Pfaffenhofen. Die zehn Geschwister sind oft auf sich alleine gestellt, kaufen Schnaps und Bier für den Vater: "So hat sich der Alkohol in die Familie reingeschlichen."

Was folgt, ist eine Abwärtsspirale: Mit 16, bereits alkoholkrank, beginnt sie eine betreute Ausbildung in Augsburg, ein Jahr später stirbt die Mutter. Das Wohnheim muss sie mit 18 verlassen. Sara landet auf der Straße, schläft unter der Brücke. "Es hat mir auch gefallen, mein Lotterleben." In diesem Umfeld aus Alkohol, Drogen und Prostitution habe sie sich frei gefühlt. "Ich habe damals gemacht, was ich will. Ich musste niemandem Rechenschaft ablegen."

Nach Jahren steht Sara in Pfaffenhofen: "Ich wollte zu meinem Vater, aber ich habe mich nicht getraut." Sie kommt bei Freunden unter, die meiste Zeit verbringt sie am Münchner Bahnhof bis eine Freundin an einer Überdosis Heroin stirbt. "Ich habe die Drogen zwar probiert", sagt sie. Verfallen ist sie aber dem Alkohol. Am Ende sind es zwei Flaschen Schnaps am Tag.

Sara wird schwanger: "Bis zur Geburt habe ich nicht mehr getrunken, danach hatte der Alkohol wieder die Hauptrolle in meinem Leben." Nachts, wenn die "Gloa" schläft, trinkt sie. Als die drei Jahre alt ist, weiß Sara, dass sie so nicht weitermachen kann, sie geht zum Jugendamt. Ein benachbartes Paar kümmert sich um das Kind: "Ich traute mich einfach nicht mehr." Das zu erzählen, fällt Sara sichtlich schwer, immer wieder senkt sie ihren Blick.

Heute ist ihre Tochter 27 Jahre alt, verheiratet, selbst Mutter. "Sie ist einen guten Weg gegangen, darauf bin ich stolz", sagt Sara. Ihre Tochter sagt einmal etwas zu ihr, was sie nie vergessen wird: "Ich habe keine Mutter, ich habe eine Säuferin." Sara fasst einen Entschluss, geht zu Prop, ihrem ersten Betreuer sagt sie: "Ich brauche professionelle Hilfe, sonst gehe ich hops."

Sara stockt immer wieder. Es sind nur Bausteine ihres Lebens, die sie offen anspricht. Man ahnt: dazwischen ist noch mehr passiert. Während sie erzählt, springt die Katze auf ihren Schoß, Sara streichelt sie flüchtig. Die Katze ist Aufmerksamkeit gewöhnt, schnurrt unablässig. Sie ist da, wenn Sara Ablenkung braucht: "An Feiertagen oder Weihnachten, da merke ich, dass ich alleine bin." Trotzdem ist das für sie wichtig: "Dass ich heimkommen, die Türe zumachen kann und niemanden reinlassen muss."

Abstinenz ist kein Muss im betreuten Wohnen, aber seit 2015 lebt Sara nüchtern. "Ich kam damals vom Einkaufen und es fühlte sich an, als würde ich von innen verbrennen." Sie hat starken Durst, schließt die Fenster, legt sich auf das Bett. Das weiß sie heute nur, weil sich die Nachbarn Sorgen machten, als Sara nicht auf die Klingel reagiert. Ein Nachbar steigt durchs Fenster ein, findet sie; nicht ansprechbar. In der Klinik erwacht sie aus dem Koma: "Ich musste alles wieder lernen: Laufen, sprechen. Das war ein Denkzettel." Sara weiß: "Noch eine Chance bekomme ich nicht." Trotzdem ist der Drang zu trinken ihr ständiger Begleiter. In solchen Momenten trinkt sie Kaffee: "Oft geht es dann wieder."

Auch einfache Dinge wie Staubsaugen oder Blumen gießen helfen Sara: "Es ist wichtig für mich, Alltägliches zu tun." Das betreute Wohnen versucht, solche Alltagsstrukturen für die Klienten zu schaffen. Manchmal fehlt trotzdem der Antrieb. "Als es letztens andauernd geregnet hat, habe ich mich am liebsten verkrochen." Sara nutzt auch andere Angebote von Prop und geht zur Kontakt- und Begegnungsstätte (KoB) in der Auenstraße 6. Dort kann sie Kaffee trinken "oder einfach nur ratschen." Das tut ihr gut. "Man hat was erlebt, war draußen."

Zweimal in der Woche kommt Betreuerin Stephanie Schindler vorbei, auch heute kümmert sie sich um die Post. Sie hilft bei Behördengängen oder Schulden. Sara spricht viel mit ihr: "Es ist gut, dass jemand da ist, der sich auskennt, der mich nicht in eine Ecke drängt. Jeder, der in so einer Krise steckt, sollte sich beraten lassen. Es gibt nichts Schöneres, als aus dem Teufelskreis rauszukommen."

Das haben auch Rainer und Andrea geschafft. Sie wohnen gemeinsam in einer Therapeutischen Wohngemeinschaft (TWG) von Prop. Hier ist die Prämisse "trockenes Wohnen", sagt Sozialpädagogin Kristin Eichler.

In einem Pfaffenhofener Restaurant ist die WG zum ersten Mal gemeinsam essen. Zwei Karaffen stellt der Kellner auf den Tisch, gefüllt mit einem tiefroten Getränk und einem hellgelben. "Ich habe sofort an Rot- und Weißwein gedacht, das war ein Schock", erzählt Rainer. Dabei waren es nur Saftschorlen. Auswärts etwas unternehmen ohne Alkohol, das war früher undenkbar. Seit fünf Jahren ist Rainer jetzt trocken. Es hat ein bisschen gedauert, bis sie entschieden haben, außerhalb der TWG etwas zu unternehmen. "Von Anfang an gab es viel Sympathie, aber auch Schwierigkeiten", sagt Andrea, 54. Wie in anderen WGs gibt es auch hier Eifersucht und Konflikte. Der Unterschied: Wenn es Probleme gibt, sind Therapeuten zur Stelle. "Wir sind Menschen, die durch unsere Sucht verlernt haben, Konflikte auszutragen", sagt Andrea.

Rainer ist seit den 80ern abhängig. Er arbeitet zuerst als Koch in der Wirtschaft der Eltern, macht sich dann selbstständig. "Durch die Drogen hab ich mir alles kaputt gemacht", sagt er. Die Neugierde hat ihn in die Sucht getrieben, erst Zigaretten und Alkohol, dann Kiffen, dann harte Drogen. Am Ende blieb der Alkohol. Die Selbstständigkeit endet in einem Finanzfiasko, darunter leidet auch die Schwester. Ein Wendepunkt: 2005 kommt Rainer zu Prop. Mehrere Langzeittherapien helfen nicht. Rainer lernt seine spätere Frau kennen, verliert sie 2014 an eine schwere Krebserkrankung, dann holt er sich erneut Hilfe.

Andrea hat schon in der Pubertät mit Depressionen und Magersucht zu kämpfen. "Ich habe das Leben nur ertragen, wenn ich hungerte oder trank." Andrea arbeitet als Erzieherin, heiratet und bekommt ein Kind, nebenbei trinkt sie. "In der Sucht konnte ich mich zurückziehen." Die Ehe geht in die Brüche, die Tochter bleibt beim Vater. Heute sind die Fronten verhärtet. Mit 28 beginnt sie, härtere Drogen zu konsumieren. "Gespritzt haben wir nie", das ist Rainer wichtig. Oft fühlten sie sich stigmatisiert als "Verbrecher", erzählt er. "Dabei sind wir mit Kriminalität nie in Berührung gekommen, haben gearbeitet."

Gesellschaftliche Vorurteile stellen auch die Betreuer vor Herausforderungen: Der Mangel an sozialem Wohnraum erschwert die Suche nach Wohnungen für die TWGs und auch für die Klienten, wenn sie ausziehen. Grund sind die Miethöhen, oft scheitere es aber auch an der mangelnden Offenheit der Vermieter. Probleme gibt es auch bei der Vermittlung von Arbeit. Ziel ist eine Beschäftigungsstruktur. "Für solche Jobs findet sich in Pfaffenhofen keine Gelegenheit", erzählt Sozialpädagoge Gerhard Potsch. Im Moment arbeiten Rainer und Andrea bei der sozialen Dienststelle Integra in Manching, die Arbeit dort hilft ihnen.

"Mir meine Selbstständigkeit wieder aufzubauen, bedeutet mir viel", sagt Rainer. "In der Sucht verliert man alles: Den Bezug zu sich, seinem Umfeld, seinem Körper, seinem Denken und Fühlen. Die Sucht tötet alles."

Auch Andrea wollte nach Jahren der Sucht die Kontrolle über sich zurück, sie sagt heute: "Es ist schön, dass ich etwas schaffe, ohne dass ich den Stress mit Suchtmitteln kompensieren muss." Den Alltag abstinent zu bewältigen, ist für sie das schwierigste. Das liegt nicht an der Sucht allein. "Die meisten kommen mit einer Abhängigkeits- und einer psychischen Diagnose", erklärt Sozialpädagogin Kristin Eichler.

Die Gemeinschaft sichert die Abstinenz, regelmäßig gibt es Alkoholtests. "Natürlich nervt es mich manchmal, dass der Therapeut um acht Uhr in der Früh zum Pusten da ist, aber ich brauche die Kontrolle", sagt Rainer.

Ziel ist eine "zufriedene Abstinenz", sagt Potsch. Die zu erreichen ist nicht einfach: "Für mich ist das ein 40 Jahre langer Kampf und das wird mein Leben lang so bleiben", meint Rainer. "Ich bin froh um den Standard, den ich jetzt erreicht habe", sagt Andrea. Sie ist zehn Jahre trocken, ihr Kampf gilt vor allem der Psyche.

Sozialpädagogin Karen Haferstein sagt: "Die Leute denken immer, man geht vorübergehend in Therapie und dann wird es besser wie bei einem Beinbruch. Eine Suchterkrankung ist aber nicht heilbar." Trotzdem wollen die Betreuer den Klienten Hoffnung machen: "Sie sind dem Suchtdruck nicht ausgeliefert", sagt Kristin Eichler. In den quälenden Minuten helfen Gespräche mit den Mitbewohnern.

"Ich kann nicht mehr alleine leben", das weiß Andrea. Die beiden sitzen in bequemen Stühlen in einer offenen Scheune. Es ist ein heißer Sommertag, der leichte Wind verschafft einen willkommenen Durchzug. Sie stecken sich eine Zigarette an und scherzen: Die nächste Station ihres Lebens sei ganz in der Nähe, sagen sie; die Rede ist vom Friedhof. Zynisch ist das vielleicht: "Aber wir sind für unsere Sucht sehr alt geworden", sagt Andrea. Viele Freunde sind bereits gestorben. Auf dem Papier sind sie gesund, aber über die Zukunft wollen sie sich keine Gedanken machen, meint Andrea: "Ich habe 40 Jahre Sucht hinter mir, ich versuche, so zu leben als wäre jeder Tag der letzte."

 

Laura Csapó