70 Prozent Glücksspiel, 30 Prozent Taktik
„Mensch ärgere dich nicht“ kennen fast alle – 110 Jahre ist das Spiel alt und bleibt trotzdem aktuell

03.02.2024 | Stand 03.02.2024, 19:00 Uhr

„Mensch ärgere Dich nicht“ – Die Schauspieler Manuel Santos Gelke und Marie-Luise Marjan spielen am Stand des Spielverlags Schmidt Spiele das bekannte Brettspiel. Das Spiel feiert 110-jähriges Jubiläum. Foto: Karmann,dpa

Von Irena Güttel

„Mensch ärgere dich nicht“ – allein der Titel kann eine Provokation sein. Wenn man kurz vor dem Ziel steht und wiederholt rausgeworfen wird, fällt es manchmal schwer, sich zu beherrschen. Spielfiguren, Würfel oder gar das ganze Spielbrett können dann durch die Gegend fliegen. Dennoch ist „Mensch ärgere dich nicht“ eins der erfolgreichsten Gesellschaftsspiele überhaupt. Jetzt wird es 110 Jahre alt.

100 Millionen Exemplare wurden nach Angaben von Schmidt Spiele mit Sitz in Berlin bisher verkauft. Auf der Spielwarenmesse in Nürnberg feierte der Verlag das Jubiläum am Dienstag groß – mit Torte und Schauspielerin Marie-Luise Marjan („Lindenstraße“) und ihrem jungen Kollegen Manuel Santos Gelke („TKKG“) am Spielbrett. „Es ist ein schönes, verbindendes Spiel“, sagt Santos. Das bestätigt auch Marjan: „Es bringt Familie und Freunde zusammen.“ Auch sie habe „Mensch ärgere dich nicht“ als Kind mit ihren Eltern gespielt.

Etwa 400 000 Exemplare verkauft Schmidt Spiele eigenen Angaben nach jährlich – und das, obwohl das Spiel so verbreitet ist. Dass das Spiel so ein Erfolg werden würde, damit habe niemand rechnen können, sagt Verlagsgeschäftsführer Axel Kaldenhoven. Er gehe aber davon aus, dass „Mensch ärgere dich nicht“ auch in den nächsten Jahrzehnten weiterhin gerne gespielt werde.

3000 Exemplare an Lazarette geschickt

1907 hatte Erfinder Josef Friedrich Schmidt das Spiel in seiner Wohnküche in München entwickelt. 1914 ließ er eine erste Auflage produzieren. Dann brach der Erste Weltkrieg aus, wurde erst zum Verkaufshindernis und brachte schließlich den Durchbruch: Weil Schmidt auf den Spielen sitzen blieb, schickte er 3000 Exemplare an Lazarette, wo verwundete Soldaten das Spiel zu lieben lernten. Später nahmen sie es mit nach Hause zu ihren Familien. So wurde es überall bekannt.

Generationen von Kindern sind mit „Mensch ärgere dich nicht“ aufgewachsen, haben es mit Eltern, Großeltern oder im Kindergarten gespielt. Auch heute sei es nach wie vor eines der großen Familienspiele, sagt Stefanie Kuschill vom Deutschen Spielearchiv in Nürnberg. „Vermutlich gibt es kaum einen Spiele-Haushalt ohne zumindest eine „Mensch ärgere dich nicht“-Variante.“ Es sei wahrscheinlich eines der meistkopierten Spiele des 20. Jahrhunderts und oft Bestandteil von Spielesammlungen.

Dieser Erfolg ist angesichts der Konkurrenz heute sogar noch erstaunlicher. Jedes Jahr kommen Hunderte neue Spiele auf den Markt, viele davon deutlich aufwendiger gestaltet und ausgefeilter in der Spielstrategie. Doch gerade die Einfachheit bei „Mensch ärgere dich nicht“ macht aus Sicht von Kuschill dessen Reiz aus: „Es kann sich recht mühelos generationsübergreifend geärgert werden.“

Verständlich ohne lange Spielanleitung

Das sieht der Medienwissenschaftler Christian Gürtler von der Universität in Erlangen genauso. Studien zeigten, dass zu komplexe Regeln die Motivation hemmen könnten, ein Spiel zu beginnen, erläutert er. Bei „Mensch ärgere dich nicht“ seien die Regeln relativ einfach, so dass kleine Kinder diese schon begreifen könnten. „Es ist ein gutes Einstiegsspiel, um zu lernen, Regeln einzuhalten, zu zählen und die Emotionen zu regulieren.“Lange Spielanleitungen zu lesen oder sich gar Tipps bei Youtube oder ChatGPT zu holen – bei „Mensch ärgere dich nicht“ ist das nicht nötig. Der auf Spiele spezialisierte Pädagoge Udo Schmitz aus Dohna hält das für einen klaren Vorteil. „Ich habe festgestellt, dass Leute ungerne Spielanleitungen lesen.“

Das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass kaum jemand nach den Originalregeln spielt. „Die wohl häufigste Abweichung findet sich direkt beim Start des Spiels“, erläutert eine Sprecherin von Schmidt Spiele. Die meisten Menschen spielten es so, dass man am Anfang eine Sechs würfeln müsse, um die erste Figur auf das Startfeld zu ziehen. Nach den Originalregeln stehe diese aber bereits zu Beginn dort.

Bei „Mensch ärgere dich nicht“ müsse man nicht lange überlegen, meint Schmitz. „Es ist ein Spiel, das jeder kennt. Es ist schnell rausgeholt und schnell gespielt.“ Etwa 20 Minuten dauere eine Partie, und dafür sei auch zwischendurch Zeit oder nach einem langen Arbeitstag. Das Schönste aus seiner Sicht ist aber: „Es spricht jedes Alter an.“

Geburtsstadt hält den Weltrekord

Das hatte Erfinder Josef Friedrich Schmidt vermutlich auch im Sinn. „Er hatte drei Söhne, die sehr lebendig waren, und für die hat er einen Zeitvertreib gesucht“, sagt Stefanie Riß, Leiterin des Stadtmuseums in Amberg, der Geburtsstadt von Schmidt. Also zeichnete er ein Spielfeld auf eine alte Hutschachtel, als Vorlage dienten ihm dabei andere Laufspiele wie „Pachisi“ oder „Ludo“. Er veränderte allerdings die Regeln – und brachte den „Ärger“-Faktor hinein, wie Riß es nennt. Amberg ist jedoch nicht nur die Geburtsstadt von Schmidt. Amberg hält auch den Weltrekord im „Mensch ärgere dich nicht“-Spielen. Im Juli 2023 kamen dort laut dem Rekord-Institut Deutschland rund 2100 Menschen zusammen, um miteinander zu spielen. Damit ging der Weltrekord nach 2017 zum zweiten Mal nach Amberg.

Doch es gibt nicht nur Weltrekorde, sondern auch Meisterschaften in „Mensch ärgere dich nicht“. Der Pädagoge Udo Schmitz organisiert unter anderem im November die Weltmeisterschaft in Berlin mit, bei der nach Angaben von Schmidt Spiele Menschen aus aller Welt antreten können. Veranstaltungen wie diese zeigten, wie inklusiv „Mensch ärgere dich nicht“ sei, sagt er. Dort spielten Kinder ab sechs Jahren gegen 80-Jährige, Menschen mit Handicap gegen welche ohne. „Jeder hat die gleichen Chancen.“

Denn bei „Mensch ärgere dich nicht“ kommt es vor allem aufs Würfelglück an. Das sagt selbst der amtierende Weltmeister und Berliner Landesmeister Phillipp Rathunde. Für die Meisterschaften habe er nicht extra geübt, sagt der 35-Jährige. Dass er gewonnen habe, sei also eher Zufall. „Aber zweimal so ein Zufall ist natürlich ein großer Zufall“, gibt er zu bedenken. Kann man den Ausgang des Spiels also doch beeinflussen?

„Mensch ärgere dich nicht“ ist zu 70 Prozent Glücksspiel, zu 30 Prozent Taktik“, sagt der Experte Schmitz. Eine Taktik sei zum Beispiel, die Spielfiguren der Mitspieler immer sieben Schritte hinter sich zu lassen, damit man nicht rausgeworfen werden könne. Eine andere sei, im Windschatten zu laufen, sagt Weltmeister Rathunde, „und schauen, dass die anderen die Arbeit für einen machen“. Sprich: sich gegenseitig rauswerfen.

dpa