Ingolstadt
Harmonie und Dissonanzen vor der nächsten Stadtratssitzung

Auch OB Scharpfs Zwei-Jahres-Bilanz könnte zur Diskussion stehen

28.05.2022 | Stand 22.09.2023, 22:49 Uhr

Ein neuer Ton in der Lokalpolitik, mit diesem Anspruch ist OB Christian Scharpf (hier beim #trotzdemjetzt-Festival) 2020 angetreten. Zeit für eine erste Bilanz. Foto: Hauser (Archiv)

Von Christian Silvester

Ingolstadt – Fünf Seiten voller Fortschritte und Erfolge – zumindest aus Sicht des Oberbürgermeisters. So lang ist die Liste, die Christian Scharpf (SPD) unter dem Titel „Wegmarken der Stadtpolitik 2020 – 2022“ vor zwei Wochen der Öffentlichkeit präsentierte. Diese Bilanz nach dem ersten Drittel seiner Amtszeit hat in der Politik und darüber hinaus Diskussionen ausgelöst. Vor allem die Frage, wie viele der von Scharpf aufgezählten guten Taten sich vornehmlich seinem Regiment verdanken, und was er von seinem Vorgänger Christian Lösel (CSU) erbte, befeuert den Diskurs. Ebenso die Bewertung der Atmosphäre. Wie hat sich seit 2020 das Klima im Stadtrat (das der Wahlkämpfer Scharpf als „vergiftet und miserabel“ bezeichnet hatte) gewandelt? Gut möglich, dass in der Stadtratssitzung am nächsten Donnerstag, 2. Juni, (Beginn um 13 Uhr im Festsaal des Stadttheaters) Scharpfs selbstbewusste Werkschau bei dem einen oder anderen Punkt Anlass für Kritik und Debatten sein könnte.

Das sich zweifellos wandelnde Weltklima wird in dieser Sitzung auf jeden Fall eine zentrale Rolle spielen. Das Integrierte Klimaschutzkonzept der Stadt (Punkt 3) lässt eine ausführliche Aussprache erwarten. Bereits die engagierte Vorberatung im Stadtentwicklungsausschuss hat gezeigt, dass alle Parteien den Klimawandel und die nötige Anpassung der Stadt daran sehr ernst nehmen. Das große Ziel: Klimaneutralität bis 2035. Was ist zu tun, um dem drohenden Aufheizen der Stadt in immer mehr Tropensommern rechtzeitig entgegenzuwirken? Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, um Ingolstadt gegen sturzflutartige Niederschläge zu wappnen? Es liegen drei Anträge vor (17). Die AfD fordert, Ingolstadt zur „Schwammstadt“ zu erklären und sich mit der Versickerung auseinanderzusetzen. Das Regenwasser soll möglichst nicht in die Kanäle geleitet, sondern weitergenutzt werden, um eine Kühlung zu erzielen. Die Grünen wollen einen „kommunalen Hitzeaktionsplan“, um die die Bevölkerung bei extremen Hitzeereignissen als Folge des Klimawandels zu schützen. Ein weiteres Ziel laut Antrag: „Mit der Anpflanzung von Bäumen und Sträuchern, Dach- und Fassadenbegrünung, durchlässigen Belägen und dem Anlegen von Versickerungs- und Verdunstungsflächen wird eine vernetzte Grünstruktur angestrebt.“ Der Stadtrat soll über den Vorschlag der Verwaltung abstimmen, „das Ziel einer klimaresilienten Stadt weiterhin mit Nachdruck zu verfolgen“. Bei Zustimmung werden dafür im nächsten Haushalt 100000 Euro bereitgestellt.

Darüber hinaus hat der Stadtrat eine umfangreiche Tagesordnung zu bewältigen. Diverse Themen bergen Konfliktpotenzial, zum Beispiel der Stellenplan für 2023 (11; in den beiden Vorjahren war das ein brisantes Politikum) oder die Arbeitsmarktzulage für Erzieherinnen (7). Auch diese Themen werden wohl nicht diskussionslos abgehakt: Die Gebührenerhöhung für den Besuch der Mittags- und Randbetreuung an Grundschulen, für deren Sachaufwand die Stadt zuständig ist (25), und die Erhöhung der Elternbeiträge in den Kindertagesstätten der Stadt (26). Wie die Ausbildung in den pädagogischen Berufen attraktiver zu gestalten ist, um mehr dringend benötigte Fachkräfte zu gewinnen, wird ein weiteres Thema der Sitzung sein (7).

Ein sicherer Streitpunkt: Die Freien Wähler wollen mit einem Dringlichkeitsantrag die jüngst beschlossene Änderung des Namens Bauerngerätemuseum in Museum für Landkultur rückgängig machen (33.1.).

Es sei auch noch auf etwas durchweg Harmonisches hingewiesen: Zu Beginn der Sitzung wird Stadtbaurätin Ulrike Wittmann-Brand vereidigt. Sie ist seit April im Amt.

DK



ZWEI JAHRE OBERBÜRGERMEISTER CHRISTIAN SCHARPF – EINE ANALYSE

Wie hart sich das Verlieren und Gewinnen von politischer Macht auswirken kann, war am 12. Mai besonders eindringlich zu besichtigen: Oberbürgermeister Christian Scharpf (SPD) weihte feiertagsmäßig das digitale Gründerzentrum ein. Sein Vorgänger Christian Lösel (CSU) saß dabei in der vorletzten Reihe. Beim zeremoniellen Durchschneiden des Bandes war er nicht dabei, obwohl sich das brigk im Kavalier Dalwigk wesentlich ihm verdankt; immerhin erwähnte Scharpf Lösel in seiner Rede.

Der erste SPD-OB seit 1972 wird noch mehr Prestigeprojekte eröffnen dürfen, die von Lösel vorangetrieben wurden, etwa das Kongresszentrum mit Hotel, das Kunstmuseum (alles richtig teuer), den Kasten neben dem Dalwigk oder das runderneuerte Wonnemar. Sollte Scharpf 2026 wiedergewählt werden, erlebt er ferner die Einweihung schöner neuer oder sanierter Schulen im Amt – Aufgaben, die sein Vor-Vor-Gänger Alfred Lehmann (CSU) liegen gelassen hat. Lösel holte manch Versäumtes nach. Aber die Hauptlast der Kosten für die Schulen in Höhe von weit über 100 Millionen Euro in den nächsten Jahren samt der wohl enormen Kreditaufnahme muss jetzt Scharpf im Stadtrat durchsetzen. Und politisch verantworten.

Der Glücksbringer der SPD aus München profitiert stark davon, dass die Vorgängeradministrationen finanziell solide gewirtschaftet haben und Rücklagen zum Angeben anhäuften. Allerdings erbte er auch komplexe Probleme, etwa die chronische Überlastung der personell unterbesetzten Bauverwaltung, den Mangel an Mietwohnungen, die sich Menschen mit geringem Einkommen leisten können, oder die Verödung der Innenstadt, an der sich bereits Lehmann und Lösel vergeblich abgearbeitet haben. Nicht zuletzt hat Scharpf nun Bundes-Ärgernisse an der Backe: den Fachkräftemangel in Pflege und Kitas. Um auf kommunaler Ebene gegenzusteuern hat er sich viel vorgenommen; auch daran wird der OB streng gemessen werden.

Und an der ambitionierten Devise, mit der er angetreten ist: „Der Oberbürgermeister muss die Stadt zusammenhalten.“ Das Klima im Stadtrat hat sich deutlich verbessert, was sich auch sympathischen, einen sanften Ton pflegenden Neuzugängen verdankt. Notorische Streithanseln schießen seltener und wenn, dann nur noch aus der zweiten Reihe. Die diffusen Machtverhältnisse zwingen zu Zusammenarbeit. Scharpf überzeugt als Sitzungsleiter, sehr versiert in allen Verwaltungsfragen. Mit Dorothea Deneke-Stoll und Petra Kleine stehen ihm engagierte, loyale Bürgermeisterinnen zur Seite. Doch einer der Bürgerentscheide am 24. Juli gefährdet den neuen Pragmatismus: Scheitern die Kammerspiele, droht die Stimmung im Stadtrat zu kippen.

Wenn bis 2026 grobe Fehler ausbleiben und Scharpf seinen volksnahen, versöhnlichen Stil beibehält, könnte er ein Oberbürgermeister von peterschnellartigem Ansehen werden. Allerdings ist bei ihm wegen seiner Neigung, oppositionelle Offensiven persönlich zu nehmen, nicht auszuschließen, dass er eines Tages beleidigt zurück nach München geht.

Christian Silvester