Ingolstadt
"Da sind die Kanaldeckel explodiert"

Anwohner und Augenzeugen erinnern sich an den 2. März 1972

01.03.2012 | Stand 03.12.2020, 1:46 Uhr

Ingolstadt (peh) „Ich war im Wohnzimmer und hab’ auf einmal einen Knall gehört“, erinnert sich Franz Bregler, ein Anwohner. „Ich bin zum Fenster, hab die Flammen gesehen und bin raus und zum Lokführer vorgelaufen“, erzählt er weiter. „Wollen S’ denn ned weiterfahren“, fragte Bregler den Mann an der Spitze des vorderen Zugs: „Aber der hat gesagt, dass das nicht geht, weil in so einem Fall alles gebremst wird.“

„Wie nach einem Bombenangriff“ sah es Schilderungen zufolge nach der Zugkatastrophe in dem Viertel aus: Überall Scherben, Trümmer und der Gestank nach Öl. Was die Helfer dort erblickten, sollten sie ihr Leben lang nicht mehr vergessen. „Da war eine 500 Meter lange Flammenwand vor uns“, beschreibt Karl Häusler die nächtliche Szenerie. Der 82-jährige Autor mehrerer Bücher über bekannte Kriminalfälle war damals Chef der Ingolstädter Kripo und hat das Geschehen an Ort und Stelle miterlebt.

Feuerwehrmann Erich Katschke und ein Kollege trafen als Erste dort ein. „Wir sind von der richtigen Seite her gekommen, von der Münchener Straße. Und beim Einbiegen in die Weningstraße haben wir erst gesehen, dass der Zug brennt“, erinnert sich Katschke. Die ganze Nacht und den folgenden Tag war der heute 72-Jährige im Einsatz – praktisch neben seinem Zuhause. Denn das Ehepaar Katschke wohnt bis heute in unmittelbarer Nähe in der Ringseestraße.

„Da schossen die Flammen sogar aus den Gullis heraus“, erinnert sich der frühere DK-Fotograf Heinz Wolf, der ebenfalls vor Ort war. „In der Seeholzerstraße, da sind die Kanaldeckel regelrecht explodiert“, weiß auch Erich Katschke noch wie heute: „So was habe ich in 32 Jahren bei der Feuerwehr nicht gesehen.“ Aus einem zerstörten Kesselwagen war Treibstoff in die Kanalisation gelangt und hatte sich entzündet oder war verpufft.

Noch in der Nacht hatte sich die Meldung von der Katastrophe wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet. „Die Leute standen teilweise im Nachthemd draußen“, erinnert sich Josef Amann, ebenfalls ein Anwohner. Auch Schaulustige waren zuhauf zur Unfallstelle gekommen. Was sie allerdings nicht ahnten: Sie schwebten in Lebensgefahr. Auf das Gelände der Blindenhundeschule war ein Kesselwagen mit Flüssiggas gestürzt, der jeden Augenblick explodieren konnte. „Anfangs haben wir das nicht gewusst“, räumt Karl Häusler ein. Als die Gefahr erkannt war, entschieden sich eigens aus den Niederlanden eingeflogene Experten von Shell einen Tag später zur Bergung. „Die Feuerwehr hat den Waggon gekühlt und wir haben die Straßen abgesperrt und die Bewohner der umliegenden Häuser evakuiert“, erzählt Häusler. Gleichzeitig waren Bahnmitarbeiter damit beschäftigt, die Gleise zu räumen.

Doch womit den Waggon bergen? Aus heutiger Sicht fast nicht mehr vorstellbar, entschieden sich die Fachleute trotz zwar geringer, aber ständig austretender Gasmengen für einen fahrbaren Dampfkran mit Koksfeuerung, während gleichzeitig Rauchverbot herrschte! Mit einer Tragkraft von 90 Tonnen war er in der Lage, den 70 Tonnen schweren Kesselwagen zu heben. Nach drei Stunden stand dieser mittags wieder auf den Schienen, wurde zur Shell gezogen und dort entleert.