Ingolstadt
Geiselnehmer überbietet Verteidiger

Er hält sieben Jahre Haft "für angemessen", ein halbes mehr als der Anwalt – Ankläger fordert über zehn

10.11.2014 | Stand 02.12.2020, 22:00 Uhr

Vom Vorstoß des Mandanten wieder einmal überrascht: Anwalt Jörg Gragert mit dem Geiselnehmer. Am nächsten Montag verkündet das Landgericht das Urteil - Foto: Rehberger

Ingolstadt (DK) Der vorletzte Verhandlungstag im Geiselnehmerprozess war wieder mehr als denkwürdig. Der Angeklagte überraschte alle Prozessbeteiligten in seinem „letzten Wort“ mit einer halbstündigen Erklärung. Dabei überbot er sogar den eigenen Verteidiger, was die Strafhöhe für sich betrifft.

Jörg Gragert ist lange im Anwaltsgeschäft, Peter Gietl ebenfalls. Beim Geiselnehmerprozess am Ingolstädter Landgericht nehmen sie als Verteidiger und Nebenklagevertreter völlig konträre Positionen ein. Doch gestern Nachmittag einte sie die Überraschung darüber, so etwas in ihrer Karriere noch nicht miterlebt zu haben. Denn Gragerts Mandant, kein Geringerer als der Geiselnehmer aus dem Alten Rathaus in Ingolstadt, hielt eine höhere Strafe für sich angemessen, als sie der Verteidiger nur Minuten vorher in seinem Plädoyer beantragt hatte. Statt sechseinhalb Jahren Gefängnis fand der Angeklagte sieben Jahre für okay. „Ich wusste von Anfang an, was ich da tat und dass es falsch ist. Ich denke, ich habe es maßlos übertrieben mit der Geiselnahme“, sagte er. „Ich bin bereit, dafür die Konsequenz zu tragen.“

Am 19. August 2013 hatte er zeitweise vier Geiseln im Alten Rathaus mit Waffengewalt festgehalten. Darunter Bürgermeister Sepp Mißlbeck. Erst ein Spezialeinsatzkommando der Polizei beendete den Nervenkrieg nach neun Stunden.

Der 25-Jährige nutzte gestern das sogenannte letzte Wort, um mehr als eine halbe Stunde wortreich zu erklären, was ihn wirklich zur Geiselnahme getrieben hatte. Zu Prozessbeginn hatte er noch über eine Verteidigererklärung eine Art Pro-forma-Geständnis und eine Entschuldigung abgeben lassen. „Der einzige Grund dafür war, dass der Dr. Gragert meinem vorlauten Mundwerk nicht vertraut hat“, sagte der Angeklagte. Nun aber wollte er mit eigenen Worten erläutern, dass er sich für die Tat tatsächlich schäme und ihm auch die Opfer leidtäten. „Ich bin mir durchaus bewusst, was ich ihnen angetan habe.“ Er wolle sich dafür entschuldigen.

Das alles klang nach Vernunft, nach Einsicht, nach Reue. Es kam nach einigen Entgleisungen im Verfahren sehr unvermittelt. Am Prozessbeginn und besonders am dritten Verhandlungstag hatte der 25-Jährige den Staatsanwalt und dann auch das Gericht mit Schimpfwörtern geradezu überzogen. Auch da wusste er sehr wohl, was er tat, gab der Angeklagte zu. Eine Entschuldigung gegenüber Landgerichtsvizepräsident Jochen Bösl kam ihm fast, aber dann doch nicht ganz über die Lippen. Der Vorsitzende der Strafkammer wird am nächsten Montag das Urteil verkünden.
 

Als Antrag der Anklageseite liegen zehneinhalb Jahre Gefängnis auf dem Tisch, die Staatsanwalt Ingo Desing forderte. „Wir werden den Angeklagten in der Haft nicht zu einem guten Menschen erziehen“, sagte er. „Es geht nur darum, die Gesellschaft möglichst lange vor ihm zu schützen.“

Desing ging sogar kurz auf das Thema Sicherungsverwahrung des Angeklagten nach verbüßter Haftstrafe ein. Zu einem Antrag darauf reichten die Vorstrafen des Geiselnehmers (noch) nicht, obwohl der wegen Stalkings der Rathausmitarbeiterin, die später zu einer der Geiseln wurde, bereits 20 Monate Haft aufgebrummt bekommen hatte. „Mein Nachfolger wird die Sicherungsverwahrung beantragen“, gab sich Desing überzeugt. Er mache sich da „keine Illusion“. Der Geiselnehmer werde sicher strafrechtlich rückfällig, wenn er irgendwann wieder rauskomme.

Vielleicht war es dieser Satz oder der Kommentar „Gedöns“, mit dem Desing einen angeblichen sexuellen Missbrauch des Geiselnehmers durch dessen Vater im Kindheitsalter ins Reich der Fabel verwies, die dann die Erwiderungsrede des 25-Jährigen hervorgerufen haben. Er erklärte selbst, dass es das mehrfach erwähnte Entschuldigungsschreiben für angebliche Verfehlungen der Stadt war, das er im Rathaus von der Verwaltung erpressen wollte. Die Rathausmitarbeiterin sei nicht das Ziel gewesen. „Ich habe gepokert, geblufft und verloren – das klingt doof, war aber so“, sagte er. Er wolle ausdrücklich keine mildernden Umstände für sein Geständnis und auch nicht für die Schussverletzungen, durch die seine linke Hand für immer unbrauchbar geworden ist.

Er will aber natürlich auch nicht dauerhaft in die Psychiatrie. Die Einweisung steht für ihn im Raum, allerdings eher nur noch theoretisch. Der vom Gericht bestellte Gutachter Bela Serly attestierte ihm zwar eine schwere dissoziale Persönlichkeitsstörung. Doch seine Steuerungsfähigkeit sei während der gut geplanten Geiselnahme vorhanden gewesen. Die formalen Kriterien für eine Unterbringung würden somit nicht zu erfüllen sein. Das sah übrigens auch die Staatsanwaltschaft so. Und Verteidiger Gragert natürlich ebenfalls.