Ingolstadt
Ein Fest für den alten Fritz

19.02.2010 | Stand 03.12.2020, 4:14 Uhr

Bei Audi ist er unvergessen, und auch die Politik hat er mitgeprägt. Fritz Böhm, 34 Jahre Chef des Betriebsrats, dazu Landtags- und Bundestagsabgeordneter, wird am Montag mit einem Festakt geehrt. - Foto: Rössle

Ingolstadt (DK) Er war 34 Jahre lang Betriebsratschef bei Audi, rettete den Standort Ingolstadt, saß im Landtag, im Bundestag und eine Ewigkeit im Stadtrat. Am Montag wird Fritz Böhm 90 Jahre alt, und wer den Ehrenbürger heute erlebt, würde es ihm zutrauen, dass er morgen wieder auf einen Posten zurückkehrt.

Beim Austausch von Grußworten dürfte es kaum bleiben, kommenden Montag, wenn die Herrscher Wolfsburgs anreisen, um zu gratulieren. Martin Winterkorn, der VW-Chef, und Ferdinand Piëch, der Boss im Aufsichtsrat, müssen sich auf klare Ansagen einstellen. Immerhin wissen sie, mit wem sie da Geburtstag feiern: mit Fritz Böhm. Dem Unbeugsamen. Dem eisernsten Audianer aller Zeiten.

Der stimmt sich schon auf den Festakt ein, den das Unternehmen zu seinen Ehren gibt. "Mal sehen, wenn ich grad in Laune bin, dann sag’ ich denen meine Meinung." Und dies bewegt ihn derzeit: "Verteilungsgerechtigkeit! Die Belegschaft muss am Betriebskapital beteiligt werden. Das ist die Zukunft, ich weiß es. Die Zeit ist reif. Das muss die Zukunft sein!"

Und noch etwas möchte er am Montag in angemessener Deutlichkeit ansprechen: "Modifizieren Sie endlich den Beherrschungsvertrag von Audi, damit Ingolstadt die Gewerbesteuer bekommt, die hier auch erarbeitet wird!" Und sollte ihn seine Laune beflügeln, kündigt Böhm an, "dann kann’s schon passieren, dass ich denen noch sage: Wollt ihr denn nicht endlich mal Ingolstadt das geben, was Ingolstadt zusteht"

Zuzutrauen ist es ihm. Unbedingt. Er hat nie um etwas herumgeredet. Große Namen vermögen ihn nicht einzuschüchtern, völlig egal, ob sie Porsche lauten oder Hahn oder Piëch. Schließlich ist er Fritz Böhm – ein Mann, von dem selbst enge Wegbegleiter mit bewundernder Ehrfurcht berichten, er sei früher nie hart, aber fair gewesen, sondern knallhart, aber fair.

Fritz Böhm pflegt ein impulsives Lebensmotto. Besser gesagt zwei. Das eine stammt von Goethe und geht so: "Immer strebe zum Ganzen, und kannst du selber kein Ganzes werden, als dienendes Glied schließ’ an ein Ganzes dich an." Das andere hat Böhm selbst geprägt: "Eine blutige Nase nehme ich immer in Kauf!" Und wer den Ingolstädter Ehrenbürger kurz vor seinem 90. Geburtstag so reden hört – kraftvoll, konzentriert, und bis in politisch-ökonomische Details ganz auf der Höhe der Zeit –, der wäre vermutlich nicht wirklich erstaunt, wenn Böhm morgen auf einen seiner Posten zurückkehren würde.

Das Attribut "einer vom alten Schlag" mag auf ihn auch nach 90 Jahren noch nicht passen. Dafür ist Böhm zu stark der Zukunft zugewandt, so wie immer. Er verfolgt seit seiner Jugend eine Strategie, die sich als Böhmsches Gesetz definieren lässt, eine Lex Böhm, die viele Erfolge erklärt, die er für sich und seine Mitstreiter – auf die Betonung des Mannschaftsgedankens legt er Wert – reklamieren darf. "Man muss in Dekaden denken. Man muss stets fragen: Was wird in zehn Jahren sein" Und: "Ich habe immer großformatig gedacht", bekennt Böhm. Mit Details hielt er sich in der Regel weniger auf. Er war mehr der Mann fürs Grundsätzliche.

Als Chef des Betriebsrats der Auto Union und dann der Audi AG (1951 bis 1985) baute er mit dem legendären Gewerkschafter Robert Weisbach in Ingolstadt die IG Metall auf und formte eine ebenso selbst-, wie machtbewusste Arbeitnehmervertretung. Er organisierte Ende der Fünfziger Seit an Seit mit dem politischen Gegner Franz Josef Strauß und dem Genossen Wilhelm Hoegner den Kampf gegen die Verlegung der Automobilproduktion nach Zons bei Düsseldorf und verhinderte in den Siebzigern mit aller Macht – und die war beträchtlich – die Degradierung der Produktionsstätte Ingolstadt zum VW-Werk Nummer sieben; die Marke Audi wäre sonst verschwunden.

Als Fritz Böhm 1950, heimatvertrieben und eben aus brutaler sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassen, auf der Suche nach Arbeit eher zufällig in Ingolstadt landete, war vom Einfluss und der Bedeutung, die er schon bald bekommen würde, noch nichts zu erahnen. Für 77 Pfennige in der Stunde schleppte Böhm, der eine Handelslehre absolviert hatte und studieren wollte, in der Auto Union Rohre in die Montagehalle. Auf dem Rücken. Doch wer weiß – vielleicht befolgte er schon damals den Grundsatz, immer in Dekaden zu denken, und hatte eine Vermutung – womöglich wusste er es auch –, wie rasant sich diese Stadt und diese Firma bald entwickeln würden.

Geboren ist er am 22. Februar 1920 in Jägerndorf am Nordostende des Sudetenlands. Der Ort gehörte zur Tschechoslowakei. Heute liegt die Stadt in der Tschechischen Republik und heißt dort Krnov. Böhms Vater war Textilarbeiter sowie Beitragskassierer für Gewerkschaft und SPD. Mit sechs Jahren klebte Fritz in eines seiner Bilderbücher ein Herz aus Mitgliedsmarken, weil die ihm so gefielen. "Da war vielleicht was los!" Die Liebe zur SPD, sie zog Böhm ziemlich früh in ihren Bann.

Weil er als Heranwachsender in einer Boxerstaffel kämpfte, durfte er mithelfen, Parteiveranstalten vor Überfällen der Nazis zu schützen. Ein Urerlebnis. "Es war unvorstellbar, wie diese hemmungslosen Horden unter dem Kommando von Verbrechern auf uns losgegangen sind." Die Zeiten wurden noch härter. Den Krieg überlebte er als Infanterist, erst in Frankreich, dann an der Ostfront. Er erhielt das Eiserne Kreuz beider Klassen. Doch für die üblichen Landsergeschichten ist er beileibe nicht der Typ. Lieber erzählt er von den Qualen der Gefangenschaft bei den Russen, wo er für einen entkräfteten Priesteramtskandidaten mitarbeitete und zusah, "wie sich sogar hohe Offiziere vor Hunger auf dem Misthaufen um Fischköpfe geschlagen haben".

Während der fünf Jahre im Lager sinnierte der junge Mann darüber, was zu tun sei, um die Grauen des Krieges nie mehr zuzulassen und ein solides demokratisches Gemeinwesen aufzubauen. In Freiheit setzte er seinen Plan sofort in die Tat um. Schritt für Schritt. 1952, da war er schon ein bekannter Betriebsratschef, zog Böhm für die SPD in den Ingolstädter Stadtrat ein. "Die haben in mir einen Stimmenbringer gesehen – und so war es dann ja auch."

Für die Genossen der Schanz, diese unsentimentale Erkenntnis lässt sich schwer bestreiten, ist Fritz Böhm eine Jahrhunderterscheinung. Wortgewaltig und von seinem bald gefürchteten Selbstbewusstsein beseelt, führte er in der kommunalen Politik von Beginn an so manch großes Wort. Bis heute schätzt er die lokale Ebene am meisten. "Es ist einfach das Schönste, wachsen zu sehen, was man mitbewirkt hat. Die Freude am Geschaffenen und die Unmittelbarkeit in der Kommunalpolitik sind faszinierend!", schwärmt er – um mit wissendem Blick anzumerken: "Aber nur, wenn man auch Einfluss besitzt."

Und daran mangelte es ihm nie, wobei Böhm fast selbstkritisch einräumt, nicht auf jedem Feld siegreich gewesen zu sein, denn die Dominanz der Kulturpolitik vermochte er kaum zu zügeln. "Das mit dem Theater fand ich noch in Ordnung, aber dann ging das mit den ganzen Museen und diesem Alf Lechner los! Da ritt jeder Stadtrat sein Steckenpferd, und ich kam mir vor wie ein Einzelkämpfer." In der Rangfolge, findet er, "ist damals die Gesundheitspolitik und auch die Schulpolitik im Vergleich zur Kultur zu wenig bedient worden". Als Kämpfer für das Klinikum mochte er das nicht akzeptieren. "Da war zu viel Klein-Klein, da fehlte ein in die Zukunft weisendes Konzept – und es mangelte an Mut."

Heute sei vieles etwas besser. Der effizienzfixierte Führungsstil eines Alfred Lehmann liegt Böhm näher als die Art von dessen Vorgängern Otto Stinglwagner und Peter Schnell, denen er zwar das Prädikat "Volksbürgermeister" verleiht, allerdings ebenso einen "Hang zum Altväterlichen" attestiert.

Zwei andere Kapitel im Leben des Fritz Böhm sind kürzer, jedoch nicht arm an Bedeutung. Zwischen 1958 und 1965 gehörte er dem Bayerischen Landtag an, wo er im Ausschuss für Sozialpolitik für die Interessen der Heimatvertriebenen und anderer Opfer des Krieges eintrat. "Böhm hat eine Menge Initiativen entwickelt", lobte der langjährige SPD-Fraktionschef Volkmar Gabert. "Zu seinen Anliegen gehörte vor allem eine vernünftige Strukturpolitik." Gaberts Gesamturteil: "Böhm war ein energischer Abgeordneter."

Der in der Landespolitik gar Geschichte geschrieben hat – wenn auch weithin unbemerkt. Da er die ungeordnete bis ungehemmte Raffinerieanballung bei Ingolstadt voller Sorge sah ("Das waren ja alles Konkurrenten!"), lernte er erst im Crashkurs Englisch ("Damit ich mich mit den Raffineriefritzen überhaupt unterhalten konnte") und wandte sich dann an Innenminister Alfons Goppel. "Ich hab’ den so lange genervt, bis er eine Abteilung für Umweltschutz aufgemacht hat." Daraus entstand ein eigenes Ministerium. Max Streibl wurde der Herr des Hauses und ließ sich als Europas erster Umweltminister feiern. "Es war eigentlich mein Anstoß", merkt Böhm an. "Immerhin hat sich Streibl bei mir bedankt."

1965 zog er in den Deutschen Bundestag ein, wo er sich als Wegbereiter für das neue Betriebsverfassungsgesetz bleibende Verdienste und die bis heute währende Freundschaft Helmut Schmidts erwarb. 1972 verzichtete Böhm auf eine dritte Kandidatur, um sich wieder mehr dem Audi-Betriebsrat zu widmen. "Da waren allzu lockere Sitten eingekehrt. Der Kapitän musste wieder aufs Schiff!" Audi kam für Böhm immer und unbedingt an erster Stelle.

Und wo steht sein Unternehmen in zehn Jahren? "Wenn VW die Generallinie beibehält, sehe ich Audi in einer glücklichen Zukunft." Vor allem aber: "Vor Mercedes und BMW!" Es wäre für einen Fritz Böhm untypisch, sollte er bei so einer zentralen Frage daneben liegen.