Ingolstadt
Auf den Spuren der vertriebenen Nonnen

04.01.2010 | Stand 03.12.2020, 4:22 Uhr

Vertreibung nach Brasilien: Am 12. Oktober 1938 kamen die Ingolstädterin Fridolina Lautner (Mitte) und vier Glaubensschwestern in Südamerika an. - Foto: oh

Ingolstadt (DK) Vom Lehrerpult in die brasilianische Mission: Mit dem Verbot von Klosterschulen trieben die Nazis 1938 auch die Ingolstädter Franziskanerinnen aus den Klassenzimmern. Der Gymnasiallehrer Albert Eichmeier hat sich nun im Stadtarchiv auf Spurensuche gemacht.

Bis Mitte 1938 bestand der Alltag von Schwester Fridolina Lautner hauptsächlich aus Gebeten, den Regeln des heiligen Franziskus und dem täglichen Unterricht in der Ingolstädter Haustöchterschule mit ihren damals 131 Schülerinnen in vier Klassen. In der 1b der Klosterschule unterrichtete die Ordensfrau zum Beispiel Deutsch, Geschichte, Rechnen und Erdkunde. Doch zu Beginn des nächsten Schuljahres lebte die Franziskanerin bereits in einer anderen Welt: Nach einer beschwerlichen, wochenlangen Seereise auf dem Hochseedampfer setzte Fridolina Lautner am 12. Oktober 1938 zusammen mit anderen Schwestern aus der Schanzer Heimat erstmals den Fuß auf brasilianischen Boden.

Die unfreiwillige Auswanderung der ersten Nonnen war eine direkte Folge der nationalsozialistischen Gleichschaltung in Deutschland: Im Zuge ihrer verbrecherischen Politik verboten die Nazis alle Privatschulen im Reich, darunter die klösterlichen Schulen. Davon betroffen war auch das Ingolstädter Kloster St. Johann im Gnadenthal, das neben der Haustöchterschule auch das Mädchenlyzeum mit 19 Lehrkräften und 149 Schülerinnen in sechs Klassen betrieb. "Die Klosterschulen waren ein Kulturträger in Ingolstadt und sind trotzdem in kürzester Zeit verschwunden", blickt der Gymnasiallehrer Albert Eichmeier zurück. Und sieht darin auch eine Warnung für die heutige Zeit: "Es ist erstaunlich, wozu Menschen bereit sind."

Seit September 2009 unterrichtet Eichmeier, der zuvor in Kempten gearbeitet hat, am Gnadenthal-Gymnasium die Fächer Geschichte, katholische Religionslehre und Mathematik. Die Ausstellung zum Schulstart, mit der auch in der Schanz das 800-jährige Bestehen der franziskanischen Lebensregeln gewürdigt wurde, inspirierte den 45-jährigen Gymnasiallehrer zu einer intensiven Recherche im Ingolstädter Stadtarchiv, das im Stadtmuseum untergebracht ist. 659 Seiten zur Geschichte des Schulverbotes in Ingolstadt hat der Historiker kopiert, nach Themenbereichen sortiert, fein säuberlich durchnummeriert und in zwei himmelblauen Aktenordnern abgeheftet. Das Ergebnis ist ein tiefer Einblick in die ersten Jahre nach der Machtergreifung 1933 und ein Lehrstück, wie die bürokratisch-technische Umsetzung der unmenschlichen NS-Politik im Alltag ablief.

Der berüchtigte NSDAP-Gauleiter von München und bayerische Kultusminister Adolf Wagner setzte sich vehement dafür ein, dass die Klosterschulen so schnell wie möglich geschlossen und durch städtische Einrichtungen ersetzt wurden. Dabei arbeitete er mit Zuckerbrot und Peitsche: In einem Brief an den damaligen NSDAP-Oberbürgermeister Josef Listl klagte Wagner im September 1937 darüber, dass es in Ingolstadt keine städtische höhere Schule für Mädchen gebe. "Im fünften Jahr der nationalsozialistischen Regierung muss diese Tatsache Bedenken erregen", warnte der Nazi-Minister. Und lockte mit "nennenswerten Zuschüssen" für Städte, die eine Alternative zu den Klosterschulen bieten könnten.

Adolf Wagner war sich seiner Mission im "Tausendjährigen Reich" sehr sicher: In langen Briefen stellte er selbstbewusst die Gleichschaltung eines ganzen Volkes dar. "Die im Gang befindliche Neugestaltung bedeutet einen völligen Wendepunkt in unserem höheren Schulwesen. Die alten Schulformen verschwinden, neue treten an ihre Stelle", verdeutlichte Wagner zum Beispiel in einem Schreiben an "Seine Eminenz", Michael Kardinal von Faulhaber, den berühmten Erzbischof von München und Freising. Eine Kopie dieses amtlichen Schreibens mit Hakenkreuz-Dienstsiegel ging auch an den Ingolstädter OB.

Oberbürgermeister Josef Listl, der weder Geld noch Gebäude oder Personal für die vorgeschriebene Städtische Mädchen-Oberschule hatte, spielte zunächst auf Zeit. Im Oktober 1937 skizzierte er den Beamten in München eine aus seiner Sicht elegante Lösung des Dilemmas: Nachdem er den Schwestern in einem ersten Schritt den Unterricht in der Volksschule verboten hatte, bekämen die Franziskanerinnen offenbar wirtschaftliche Probleme. "Es wird also alsbald von selbst der Zeitpunkt eintreten, in welchem der Orden die Mittelschulen für Mädchen aufzugeben gezwungen sein wird", sagte Listl voraus.

In der Tat konnte die Stadt dann schrittweise sowohl die Gebäude des Klosters als auch die Lehrbefugnis übernehmen und die Schule dabei sogar weiter ausbauen. Allerdings wurde erst im Jahr 1941 die letzte Ingolstädter Klosterschwester aus dem Lehrpersonal entlassen.

Die Gnadenthal-Nonnen in Brasilien hingegen hatten zu dieser Zeit bereits Fuß gefasst: In ihrer ersten Station in Aiuruoca pflegten Fridolina Lautner und ihre Glaubensschwestern die Kranken, bildeten Lehrerinnen aus oder betreuten die Armen. So gesehen war die Vertreibung aus Ingolstadt vielleicht sogar ein Segen, denn nach dem Zweiten Weltkrieg durften die Franziskanerinnen wieder ihre Schulen in Ingolstadt eröffnen – und hatten eine zusätzliche, neue Heimat in Südamerika gefunden.