Ingolstadt
Es sollen alle erfahren

Zilli Schmidt wuchs in Ingolstadt auf, als junge Frau überlebte sie das KZ Auschwitz - Eine Begegnung

24.09.2020 | Stand 23.09.2023, 14:21 Uhr
Agnes Krumwiede
"In Ingolstadt hatte ich die schönste Zeit meines Lebens", erzählte Zilli Schmidt im Gespräch mit Romeo Franz, Mitglied des Europäischen Parlamentes, und Agnes Krumwiede. Für das Foto nahmen sie ganz kurz bei geöffneter Balkontür ihre Schutzmasken ab. −Foto: Krumwiede

Ingolstadt - Zilli Schmidt wurde unter ihrem Geburtsnamen Cäcilie Reichmann am 10. Juli 1924 in Hinternah in Thüringen geboren.

Einen Teil ihrer Schulzeit verbrachte sie während der 30er-Jahre in Ingolstadt. Viele Mitglieder ihrer Familie, darunter auch ihre kleine Tochter, wurden in Auschwitz ermordet. Insgesamt etwa 500000 Sinti und Roma wurden Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes. 22700 Sinti und Roma waren von 1941 bis 1944 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau inhaftiert. 13000 von ihnen starben an den Haftbedingungen, 4000 haben überlebt, die übrigen 5700 wurden in den Gaskammern ermordet. Zilli Schmidt gehört zu denen, die überlebt haben.

"Als ich da rausgegangen bin aus dem KZ, habe ich mir gesagt: Ich muss erzählen, dass sie meine Familie vergast haben. Dass es nicht nur die Juden waren, die ermordet worden sind, sondern auch mein Volk, die Sinti. Das sollen alle erfahren! "

Zilli Schmidt ist 96 Jahre alt. Sie wirkt zerbrechlich mit ihrer Körpergröße von knapp 1,50 Meter. Ihre Fingernägel sind rot lackiert. Es sieht elegant aus, wie sie die langstieligen Zigaretten raucht. Elegant und schön war sie auch als junge Frau, das erkennt man auf den Fotos, die in ihrer Wohnung an den Wänden hängen. "Ich war immer so eitel", sagt sie und lacht. An ihrem linken Arm ist die Tätowierung aus dem Konzentrationslager Auschwitz zu sehen, die Häftlingsnummer Z-1959.

"In Ingolstadt, das war unsere schönste Zeit. Da wurden wir noch nicht verfolgt, waren alle zusammen. " Den Stellplatz für ihre Wohnwagen hatte die Familie im Hinterhof des Wirtshauses Zum Politiker in der Beckerstraße 27. Die Eltern Bertha und Anton Reichmann lebten mit den beiden jüngsten Kindern Otto ("Hesso") und Zilli in einem Wohnwagen. Zillis ältere Schwester Hulda ("Guki") besaß mit ihrem Mann und den Kindern einen eigenen Wagen. In den Sommermonaten der 1930er-Jahre zog die Familie Reichmann mit einem Wanderkino durchs Land. Ab Herbst lebten sie im Hinterhof der Beckerstraße. Die Mutter handelte, wie Zilli sagt, als Hausiererin unter anderem mit hochwertiger Spitze. Abends musizierte der Vater im Wirtshaus. "Das hat den Gästen gefallen, die Bayern mögen ja die Zither! "

Eine musikalische Familie waren sie, der älteste Sohn Stefan ("Stifto") war ein angesehener Geigenhändler. Zilli spielte Geige. "Mit meinem jüngeren Bruder habe ich mich immer gestritten, wer auf der Geige spielen darf. Mein Vater hat dann gesagt: ,Hesso, gib der Zilli die Geige, die hat die besseren Ohren. ' Das hat auch gestimmt! " Das Geigenspiel erlernte sie durch Nachahmung und nach dem Gehör.

Zilli besuchte gemeinsam mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Hesso die Gnadenthal-Volksschule in Ingolstadt. Ihre ältere Schwester Guki hatte sieben Kinder. Zwei von ihnen kamen in Ingolstadt zur Welt. Guki war verheiratet mit Fritz Braun. Zilli erzählt über ihren Schwager: "Er war wie mein Vater. Handwerklich sehr geschickt, er und mein Vater haben gemeinsam Wohnwagen und Öfen gebaut, wunderschöne Wohnwagen. Ein ganz lieber war er, der Fritz. Er konnte lesen und schreiben und hat mir geholfen für die Schule. Sehr gebildet war er. " Auch die Cousine von Fritz Braun, Anna Braun, lebte in einem der Wohnwagen im Ingolstädter Hinterhof. Sie war verheiratet mit Zillis älterem Bruder Stifto. In Ingolstadt fühlte sich die Familie Reichmann längere Zeit wohl. Zilli erinnert sich an die Firmpaten: "Die Firmung fand in Eichstätt statt. Der Firmpate meines Bruders war ein Ingolstädter Bankdirektor und meine Firmpatin die Besitzerin eines großen Haushaltswarengeschäftes. "

Zilli ist ein gläubiger Mensch. "Wenn die Zeit gekommen ist, gehe ich zu Gott und zu meinen Lieben. " Mit der katholischen Kirche hadert sie heute: "Die haben es doch gewusst. Und nichts gemacht. Der Papst hatte doch einen Pakt mit den Nazis! "

1939 fühlte sich die Familie nicht mehr sicher in Ingolstadt. "Es wurde immer schwieriger", erzählt Zilli Schmidt, "mein Vater konnte nicht mehr im Wirtshaus musizieren. Die wollten das nicht mehr. Von Ingolstadt aus begann unsere Flucht. "

Zunächst reiste die Familie nach Eger, wo einige Verwandte lebten. Dort kam 1940 Zillis Tochter Ursula, genannt Gretel, auf die Welt. Mit deren Vater wollte Zilli nicht zusammenleben. Die Familie machte sich dann auf den Weg nach Metz. In Straßburg waren zwei von Zillis Cousinen untergetaucht. "Mein Vater sagte zu mir, ich soll hinfahren und sie zu uns holen. " Am Bahnhof in Straßburg wollte Zilli die Tickets kaufen. Die zwei Cousinen trauten sich nicht, weil sie namentlich gesucht wurden. "Und dann steht hinter mir die Gestapo: ,Im Namen des Gesetzes, Sie sind verhaftet! ' Die wollten aber gar nicht mich, sondern meine Cousinen. Sie haben meinen Ausweis angesehen, Reichmann ist ja ein deut-scher Name: ,Nein, Sie suchen wir nicht. ' Aber sie haben meine Cousinen verhaftet und ich habe gesagt: Wenn Sie meine Cousinen verhaften, komme ich auch mit. Und so kam ich auch ins Gefängnis. "

Es folgte eine Odyssee von Gefängnisaufenthalten, bis Zilli nach Lety gebracht wurde. Lety war ein Konzentrationslager, ein reines "Zigeuner-Lager", im damaligen Protektorat Böhmen. "Da war so ein Waggon in der Erde, dort haben sie die Leichen reingeworfen. " Präsent ist ihr auch noch der Hunger: "Ich war immer so hungrig, das war schlimm. " Zilli kam als Erste ihrer Familie ins Konzentrationslager Auschwitz, die anderen folgten. Ihre Tochter Gretel kam zusammen mit den Großeltern. Auch ihr ältester Bruder Stifto wurde nach Auschwitz deportiert. "Er kam an in seiner Wehrmachtsuniform, er war in Stalingrad. Und was haben sie mit ihm gemacht in Auschwitz? Sterilisiert haben sie ihn und dann durfte er wieder gehen. "

Untergebracht waren sie alle im "Zigeunerlager". "Wir waren im Block 6, das war der Musiker-Block. Die schönste Musik, die man sich vorstellen kann, war in Auschwitz zu hören. " Zilli versorgte ihren Block mit Essen. "Ich habe geklaut wie ein Rabe. Meine Mutter hat sich immer solche Sorgen gemacht, die bringen Dich noch mal um, hat sie gesagt! " Das siebte und jüngste Kind ihrer Schwester Guki gelangte in einem Karton nach Auschwitz. "Der kleine Fritz war krank und lag im Krankenhaus in Eger, als sie wegmussten. Die Leute dort haben ihn uns im Paket nach Auschwitz geschickt, 14 Monate war er alt, er hat dann nur noch ein paar Tage gelebt. "

Zilli Schmidt erzählt von Erinnerungen, die sich ihr unauslöschlich eingeprägt haben. "Da waren junge Männer um die 14 bis 16 Jahre alt, mit denen haben wir immer geredet. Die arbeiteten an den Verbrennungsöfen, länger als drei Monate blieb niemand bei dieser Tätigkeit, die wurden danach alle gleich umgebracht, damit sie es nicht erzählen konnten. "

Was Zilli berichtet, ist so grauenhaft, dass allein schon das Zuhören schmerzt. "Es gab da diesen elektrischen Zaun und die Wachtürme. Wenn Kinder in der Nähe des Zauns draußen spielten, dann wurde auf sie geschossen. "

Am 2. August 1944 wurde das "Zigeunerlager" in Auschwitz aufgelöst. Die "Arbeitsfähigen" kamen in andere Lager. Die Übrigen, rund 4200 überwiegend ältere Menschen und Frauen mit Kindern, wurden in den Gaskammern ermordet. Zilli und ihre Familie ahnten davon nichts. Sie erfuhr nur, dass sie in ein anderes Lager kommen sollte. "Ich wollte nicht, ich wollte bei meiner Familie bleiben. " Von Weitem sah sie ihre Schwester winken. Dort war ihre ganze Familie, waren ihre Eltern mit Gretel, ihre Schwester Guki mit den sechs Kindern. Zilli lief zu ihnen. "Da hat Mengele (der berüchtigte Lagerarzt Josef Mengele, Anm. ) mich gepackt und mir eine Ohrfeige gegeben. Ich glaube, das hat mein Trommelfell zerfetzt, deswegen höre ich auf dem linken Ohr so schlecht. Er hat mich zurück zum Waggon geschubst und gebrüllt: ,Was machst Du denn da! ' Und so musste ich in den Transport und kam nach Ravensbrück. Eine Freundin hat mir später in Ravensbrück erzählt, weißt Du, dass sie die alle umgebracht haben? Ich habe geschrien. . . ach. "

In Zilli Schmidts Schlafzimmer steht auf einer Ablage ein Foto. Es zeigt ein etwa zweijähriges blondes Mädchen mit einem lieben Lächeln. "Als ich das mit meinem Mädchen erfahren habe, hab ich gesagt: Gott, bitte lass mich keine Kinder mehr bekommen! Und er hat es erfüllt. "

Nach Kriegsende 1945 kehrte Zilli Schmidt auf Umwegen zurück nach Eger, wo der Wohnwagen der Familie stand. "Dort wollten wir uns treffen, danach. Alles war noch da, die Fotos, die Schüssel meiner Mutter, ihre Haarbürste. " Zillis ältester Bruder Stifto hatte Arbeit in Eger. Den jüngsten Bruder Hesso suchte und fand Zilli in Halle. Sie brachte ihn mit nach Eger. Eine Zeit lang lebten die Geschwister zusammen im Wohnwagen. Hesso war mit dem Schwager Fritz Braun, Gukis Mann, in Buchenwald gewesen. "Er hat uns erzählt, dass Fritz einfach umgekippt ist, nachdem er erfahren hat, dass sie alle tot sind, einfach umgefallen ist er. Er war dann auch tot. "

Bei der Wiedergutmachungsbehörde in München erfuhr Zilli Schmidt, dass sie eigentlich gar nicht nach Auschwitz hätte kommen sollen als "reinrassige Zigeunerin". Sie meinte daraufhin: "Nun, ich war aber dort. " Erst ab 1980 wurden so genannte Sinti und Roma als Opfergruppe anerkannt. Lange musste Zilli Schmidt auf eine finanzielle Entschädigung für das ihr und ihrer Familie zugefügte Leid warten. Jahrzehnte vergingen, bis sie über ihr Schicksal öffentlich sprechen konnte.

In den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher spielte die Verfolgung der Sinti und Roma keine Rolle. "Irgendwann hat mich mal der Staatsanwalt Fritz Bauer gefragt, ob ich aussagen will, da in Frankfurt", erzählt Zilli (bei den Auschwitzprozessen von 1963 bis 1965, d. Red. ). "Aber ich wollte, konnte damals nicht. Heute bereue ich das. Vor Kurzem habe ich eine Sendung über ihn im Fernsehen gesehen. Bauer war ein toller Mann. " Erst 1987 kam es vor dem Landgericht Siegen zur Eröffnung eines Prozesses gegen einen Mörder der Sinti und Roma in Auschwitz. Gegen den Blockführer Ernst August König, er war Mitglied der SS-Wachmannschaft. Vorgeworfen wurde ihm achtfacher Mord und vorsätzliche Beihilfe zum Massenmord. Zilli Schmidt sagte als Zeugin aus. "Da war eine wunderschöne Frau (die damals 24-jährige Johanna Schenk, Anm. ) bei uns im Zigeunerlager, ich kannte sie, sie war so schön, und der König wollte sie. Als er sie mit einem anderen sah, hat er durch die Barackenwand geschossen, wo sie saß. Er hat sie am Kopf getroffen. Sie war nicht gleich tot. Ich lag ne-ben ihr im Krankenlager. Dort ist sie dann gestorben. "

Bei ihren Aussagen vor Gericht saß hinter Zilli eine Schulklasse. "Sie haben alle geweint, als ich erzählt habe. " Im Januar 1991 wurde König des dreifachen Mordes für schuldig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt. Vor Beginn der Revisionsverhandlung beging er Selbstmord. Zilli weiß: "Der ist nicht da, wo ich hinkomme, nicht da, wo meine Familie jetzt ist. Der König ist beim Teufel. "

Zilli Schmidt möchte gerne ihre alte Heimat Ingolstadt wiedersehen. Ein Besuch ist geplant. Jana Mechelhoff-Herezi und Uwe Neumärker von der Stiftung Denkmal in Berlin haben in diesem Jahr eine ausführliche Biografie über das Leben von Zilli Schmidt herausgegeben: "Gott hat mit mir etwas vorgehabt! Erinnerungen einer deutschen Sinteza. "

Die Publikation ist auch für den Unterricht geeignet und kann hier bestellt werden: in-fo@stiftung-denkmal. de.

DK

Die Autorin: Agnes Krumwiede, geboren 1977, engagiert sich seit Jahren dafür, die Erinnerung an die Opfer der Nationalsozialisten wach zu halten. Als Mitinitiatorin des Bündnisses "Ingolstadt ist bunt" setzt sich die Grünen-Politikerin gegen rechtsradikale Umtriebe ein. Die studierte Pianistin und bildende Künstlerin war von 2009 bis 2013 Mitglied des Deutschen Bundestags. Bei der Kommunalwahl 2020 zog sie erstmals in den Ingolstädter Stadtrat ein.

Agnes Krumwiede