Ein Sterben auf Raten

09.01.2008 | Stand 03.12.2020, 6:13 Uhr

Ein Bild aus glücklichen Zeiten: Fast jedes freie Wochenende war Thomas Dollinger beim Bergsteigen – hier am Wendelstein. Jetzt kann er sich nicht einmal mehr alleine anziehen: Die Krankheit ALS fordert ihren Tribut. - Foto: oh

Ingolstadt/Münchsmünster (DK) Es ist ein Sterben auf Raten. Vier von 100 000 Menschen haben ALS, eine Erkrankung des motorischen Nervensystems. Thomas Dollinger aus Münchsmünster war bei einem Abenteuerurlaub, als er die ersten Anzeichen bemerkte. Kurz darauf bekam er die schreckliche Diagnose.

In Deutschland gibt es rund 6000 ALS-Erkrankte. Auch in der Region werden immer wieder Fälle der tödlich verlaufenden Muskelschwäche bekannt. Genaue Zahlen sind nicht bekannt. Professor Dr. Günter Ochs, Chefarzt der Neurologischen Klinik am Ingolstädter Klinikum, schätzt jedoch, dass es allein im Stadtgebiet Ingolstadt fünf bis sechs Patienten mit ALS gibt. Eine erfolgreiche Therapie gegen die Krankheit, bei der die Muskeln absterben bis zur Atemlähmung, gibt es nicht.

Der weltweit prominenteste ALS-Kranke ist der amerikanische Astrophysiker Stephen W. Hawking. Seine lange Überlebenszeit – mehr als 40 Jahre – ist außergewöhnlich. Weitere bekannte ALS-Opfer sind der im Mai 2007 gestorbene Maler Jörg Immendorf sowie der jüdische Philosoph Franz Rosenzweig, der mit 42 Jahren an ALS starb.

Wie Thomas Dollinger standen sie alle bis zum Ausbruch der Krankheit mitten im Leben. Der jetzt 30-Jährige hatte als Diplomingenieur und Fachbereichsleiter in einem Elektronikunternehmen 100 Mitarbeiter unter sich. Er sang Solo im Chor St. Laurentius in Neustadt. Sein größtes Hobby jedoch war das Bergsteigen. "Wenn ich Zeit hatte, war ich jedes Wochenende unterwegs", erzählt er. Der Mann spricht langsam und schwer verständlich – ein typisches Zeichen von ALS.

Daumen nicht bewegen

Als die Krankheit ausbrach, war er mit seiner Nichte und drei Neffen beim Abenteuerurlaub. Im Klettergarten bemerkte er, dass etwas nicht stimmt. "Ich konnte mich nur mit Mühe am Seil halten." Später ließ sich der Daumen gar nicht mehr bewegen, dazu kamen Lähmungserscheinungen in den Oberarmen sowie ein etwas schleppendes Sprechen.

Auf Anraten seines Neurologen ließ er sich in der Bezirksklinik Regensburg untersuchen. Dort bekam er am 9. November 2006 die Diagnose: Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Lebenserwartung: Zwei bis sechs Jahre. Für Thomas Dollinger, seine Frau Daniela, die er erst zwei Monate vorher geheiratet hatte, seine Eltern und Geschwister brach die Welt zusammen. "Nach dieser Diagnose haben sie ihn mit dem Auto heimfahren lassen", erzählt Elfriede Dollinger, Thomas Mutter. Beim Gedanken daran kann sie die Tränen nicht zurückhalten.

Ein Jahr lang hat Thomas Dollinger seine Krankengeschichte in einem Tagebuch festgehalten. Am 12. November 2006, zwei Tage nach der Diagnose, schrieb er: "Verfassung: unverändert psychisch schlecht. Die letzten Tage dachte ich mir: Gott, wie kannst du mir das antun? (. . .) Ich habe mir die Frage, ob ich glaube oder nicht, dann aber selbst sofort beantwortet: Wenn ich nicht an Gott glaube, mit wem spreche ich dann gerade eben"

Am 5. Dezember 2006 lautete der Eintrag: "Verfassung: Ich fühle mich immerzu müde. Beim Gehen habe ich ab und zu leichte Koordinationsschwierigkeiten und genauso macht mir das Sprechen gelegentlich Probleme. Ich nuschle immer wieder und habe dann wenig Kraft in der Stimme. Ich habe Probleme, mich zu konzentrieren. Meine Finger spielen recht gut mit, solange sie warm sind."

Zum Jahreswechsel 2007 schrieb Dollinger: "Heuer hoffe ich auf mehr Glück als im letzten Jahr. Obwohl. Ich habe ja meine Frau 2006 geheiratet. Und dass ich die bekommen habe, das ist mein größtes Glück!"

"Häufig Krämpfe"

Am 21. November 2007 brechen die Aufzeichnungen Dollingers ab, der mittlerweile mit seiner Frau im fränkischen Pegnitz lebt, aber einmal die Woche zur Therapie nach Münchsmünster kommt. Sein letzter Eintrag lautet: "Verfassung: Täglich häufig Krämpfe, kaum noch Kraft in Armen und Beinen. Kann meine Arme nicht mehr richtig heben oder mich hochdrücken. Meine Finger sind kraftlos und das Schreiben fällt an der Tastatur und noch viel mehr mit einem Stift schwer. Auch mit Besteck tue ich mich hart. Laufen ist fast nicht mehr möglich. Ich brauche einen Rollstuhl.". Den hat er vor einem Vierteljahr bei der Krankenkasse beantragt. Er wartet heute noch darauf.

Auf seiner Homepageinformiert Thomas Dollinger nicht nur über sich und die Krankheit ALS, sondern vor allem über ein Hilfsprojekt in Kambodscha. Er will einen eigenen Verein für das Hilfsprojekt gründen. Obwohl er weiß, dass es für ihn keine Heilung gibt, hat er immer noch Hoffnung. "Man darf nie aufgeben."

Mit der unheilbaren Krankheit ALS beschäftigt sich auch die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e. V. Spenden für den Verein können bei der Postgirobank München, Kontonummer 20 01-800, Bankleitzahl 700 100 80, eingezahlt werden.