Hilpoltstein
Kanzelpredigt gegen den Sittenverfall

Spitzenabiturient Alfred Schmidt aus Kraftsbuch provozierte in der ersten Abiturrede am Hilpoltsteiner Gymnasium einen Skandal

10.07.2014 | Stand 02.12.2020, 22:29 Uhr

Der erste Hilpoltsteiner Abiturjahrgang von 1973. Bei der Abiturrede von Alfred Schmidt (1. Reihe links) kommt es zum Eklat. Der Musterschüler und SPD-Anhänger kritisiert das Demokratieverständnis des Kultusministeriums, ein Schulrat verlässt unter Protest den Saal. - Fotos: privat

Hilpoltstein (HK) Das Gymnasium Hilpoltstein feiert morgen 50. Geburtstag. Alfred Schmidt aus Kraftsbuch gehört zum ersten Jahrgang, der 1973 hier das Abitur ablegte. Mit einem Beitrag in der Schülerzeitung und seiner Abiturrede sorgte der heute 61-Jährige damals für einen handfesten Skandal.

„Die Abiturrede hat etwas für Aufregung gesorgt“, erinnert sich Günter Ramming, damals junger Lehrer am Gymnasium, schmunzelnd. Aufregung ist wohl etwas untertrieben. Der Schulrat Leonhard Hell verließ bei der Abiturfeier unter Protest die Aula, weil Alfred Schmidt das mangelnde Demokratieverständnis des Kultusministeriums kritisierte.

Auslöser des Skandals war ein verunstaltetes Wahlplakat des CSU-Bundestagsabgeordneten Richard Stücklen. Ein kleiner Junge hatte einen toten Spatzen auf die Stirn des Politikers drapiert. Alfred Schmidt fotografierte das Plakat und stellte es unkommentiert zu einem harmlosen Artikel über den Wahlkampf in die Schülerzeitung. Schmidt bekam daraufhin Post von Stücklen, der damalige Landrat Ignaz Greiner (CSU) und viele Eltern forderten eine Zensur der Schülerzeitung. Das Kultusministerium verlangte, dass Briefe an die Schülermitverwaltung vom Direktor geöffnet werden.

Diese Entwicklung hatte sich Alfred Schmidt nicht träumen lassen, als er von der Zwergenschule Kraftsbuch 1964 ans Gymnasium Hilpoltstein wechselte. Er war das jüngste von vier Kindern, die Eltern hatten einen großen Bauernhof. Den würde der Bruder erben, die beiden Schwestern mussten mithelfen. Alfred hat dagegen alle Freiheiten. Sein Schwager setzt sich für ihn ein: „Gebt’s ihm doch die Chance, aufs Gymnasium zu gehen.“

In der Dorfvolksschule sitzt Schmidt mit rund 100 Kindern von der ersten bis achten Klasse in einem Raum. Er ist ein durchschnittlicher Schüler. Trotzdem besteht er in der fünften Klasse die zweitägige Aufnahmeprüfung für das Gymnasium. „Die waren ja froh, um jeden, der gekommen ist“, sagt er heute. Der Wechsel fällt ihm zunächst schwer. „Ich habe erst mit Latein verstanden, wie Deutsch eigentlich funktioniert“, sagt Schmidt. Mathematik fällt ihm dagegen leicht. Langsam „angewärmt“ wird er später zum Musterschüler. Sein Abitur legt er mit 1,0 als Bester ab. „Nur in Musik hatte ich eine Zwei, aber die zählte nicht zur Abinote“, erzählt Schmidt.

Große Konflikte mit den Lehrern hat er nicht. „Wir kamen alle aus geordneten Verhältnissen und waren relativ brav.“ Ältere Schüler oder Studenten als Vorbilder der Revolte gibt es in Hilpoltstein nicht. „Es war ein Selbstfindungstrip“, erinnert sich Alfred Schmidt. Das Hilpoltsteiner Gymnasium „ist ein Familienbetrieb“ gewesen. Die Lehrer seien mehrheitlich liberal gewesen. „Sie haben sich sehr eingesetzt für uns. Wir hatten einfach Glück, dass wir die ersten waren.“

Während in den Städten der Republik der Kampf der 68er gegen das Establishment beginnt, herrscht auf dem Land Ruhe. „Ich bin konventionell geblieben“, sagt Schmidt. Lange Haare, zerrissene Jeans, Haschisch, „das war nicht meine Ecke“. Doch auch er beginnt, sich politisch zu engagieren. Für die SPD. Er unterstützt Kanzler Willy Brandt und dessen Ostpolitik der Versöhnung. Und er lehnt die politische Propaganda Rainer Barzels und der CSU vehement ab. „Das war Wahlkampf unter der Gürtellinie. Die CSU hat Brandt als Verräter hingestellt. Das hat mich aufgeregt.“

So wie er denken einige Gymnasiasten. „Der Wahlkampf 1972 hat viele von uns aktiviert“, sagt Schmidt. Rund ein halbes Dutzend Schüler aus seiner Klasse mischt sich ein. Dazu trägt auch die Senkung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre bei. Schmidt klebt einen „Willy wählen“-Aufkleber auf den Daimler seines Vaters und fährt damit übers Land, um für den SPD-Kanzler zu werben.

Die Stimmung ist aufgeheizt. Man könne sich heute die Enge von damals nicht mehr vorstellen, sagt Schmidt. Der Landkreis wählt zu über 70 Prozent CSU, wenn auf dem Dorf einer das Kreuz bei der SPD macht, heißt es: „Wer war der Sack“ Der Pfarrer von Morsbach wettert in Großnottersdorf von der Kanzel gegen den Sittenverfall am Gymnasium. Alfred Schmidt sitzt zusammen mit seiner Mutter in der Kirchenbank. „Ich hatte große Lust, einfach aufzustehen und die Leute zum Gehen aufzufordern“, erinnert er sich. Doch er verzichtet mit Rücksicht auf seine religiöse Mutter auf den nächsten Eklat.

Damals schreibt Schmidt unter dem Kürzel ast für die Lokalzeitung, was ihm den Spitznamen Ast einbringt. Für einen Skandal sorgt sein Beitrag über den Wahlkampf 1972 für die Schülerzeitung. Er ist unter anderem mit dem umstrittenen Foto von Stücklens Wahlplakat bebildert. „Das Spatzenbild war vielleicht nicht die beste Idee“, sagt Schmidt heute rückblickend. Lokalpolitiker der CSU und einige Eltern fordern von Schulleiter Josef Krach die Zensur der „reflexe“, was dieser, obwohl Kreisrat der CSU, aber standhaft verweigert.

Auch die große Politik interessiert sich für die kleine Schülerzeitung. „Herr Stücklen hat mich beauftragt, Sie um eine Erklärung darüber zu bitten, welche Aussage Sie mit diesem Bild machen wollten“, schrieb der persönliche Referent von Stücklen, Dr. Hans Merkel, am 15. Februar 1973 in einem Brief an Alfred Schmidt. Der antwortet: Das Foto sei nur ein Beispiel dafür gewesen, was im Wahlkampf alles passieren könne. Er bevorzuge die Auseinandersetzung mit Argumenten.

Für Stücklen war der Fall schnell erledigt, für Schmidt nicht. In seiner Abiturrede kritisiert er den politischen „Angriff auf unsere Selbstständigkeit“ noch einmal deutlich. Das Kultusministerium habe die Zensur der Schülerzeitung und der Briefe an die Schülermitverwaltung gefordert, so Schmidt damals. „Dieses Verhältnis des Kultusministeriums zur Demokratie in der Schule wirkt ernüchternd für alle, die glaubten, dass Schülerzeitung und Schülermitverwaltung mehr sei als nur Sandkastenspiel und Demokratie auf Bewährung“, kritisiert er in seiner Abirede wörtlich. Heute sagt er: „Das Gymnasium war sicher eine erste Brutstätte für widerspenstiges Verhalten.“

Nach dem Abitur studiert Schmidt Elektrotechnik. Er arbeitet als Produktmanager für eine große Firma mit Sitz in München. Ohne das Gymnasium in Hilpoltstein wäre er wahrscheinlich Automechaniker in Greding geworden, sagt er. In der Werkstatt, in die der Vater immer den Daimler brachte.

Alfred Schmidt bleibt der SPD treu. Seit 20 Jahren sitzt er in München im Bezirksausschuss. Sendling-Westpark. Zur 50-Jahr-Feier am morgigen Samstag wird er wieder an seine alte Schule kommen. Und er wird auf der Bühne stehen – im Chor und ein Geburtstagsständchen singen. „Ich werde nicht reden“, sagt er. Obwohl es diesmal wohl keinen Eklat geben würde. Die Themen von damals sind nicht mehr brisant. „Damit würde man heute keinen mehr hinter dem Ofen vorlocken.“