Wellheim
Wellheims Sammler von Momenten

Ein Nachruf auf Gerhard Reissig senior, dessen Erinnerungen in seinen Gedichtbänden fortleben

01.04.2020 | Stand 02.12.2020, 11:37 Uhr
Seine Anekdoten, Gedichte und Reime erzählen auch vom Alltag im alten Wellheim. Gerhard Reissig ist im Alter von 80 Jahren verstorben. −Foto: Asbach-Beringer

Wellheim - Gerhard Reissig senior aus Wellheim ist am 23. März im Alter von 80 Jahren verstorben.

Seinem vierbändigen Büchlein "Anekdoten, Gedichte und Reime" verdanken wir vielfältige Erinnerungen an das alte Wellheim.

Dieser Nachruf soll auch eine kleine Reise in die Vergangenheit und eine unkonventionelle Hommage an Gerhard Reissig sein - einen vielseitig interessierten Menschen, der Kreativität, seine Heimat, seine Familie und das Leben liebte.

Im Alter von fünf Jahren musste Gerhard Reissig 1945 seinen ursprünglichen Heimatort Gottesgab im Erzgebirge, heute Bo? í Dar in Tschechien, verlassen. Sieben Jahre später kam er nach einer Zwischenstation in Gars am Inn mit seiner Familie in Wellheim an, das von nun an sein Zuhause sein sollte. Seitdem war Reissig immer wieder als Momentensammler unterwegs, indem er den Augenblick mit seiner Kamera festhielt oder ihn aus der Erinnerung niederschrieb. So sind dank seiner Gedichtbändchen detaillierte Beschreibungen der damals üblichen Freizeitbeschäftigungen und des Schulalltags überliefert. Einmal soll der Lehrer im Sommer während einer Mathestunde zwei Frauen, die sich vor dem offenen Fenster auf der Straße unterhielten, mit folgenden Worten ermahnt haben: "Seid so gut und erzählt euch das zu Hause, aber nicht vor der Schule. Wir haben gerade Rechnen und das stört die Schüler. " Eine der beiden Frauen sei eine Bäuerin gewesen, von der der Lehrer seitdem keine Eier und keine Butter mehr bekommen haben soll.

Nach der Schule ging es für Gerhard Reissig oft ins Schutterbad. Es diente der Abhärtung, wurde dafür doch - anders als heute - das eiskalte Wasser der Schutter verwendet. Dieses musste alle drei Tage ausgetauscht werden, weil es aufgrund zunehmender Algenbildung sehr bald eine grünliche Farbe annahm. Am Gitterrost außerhalb des Beckens verdrehte man sich außerdem des Öfteren die Zehen. Aber nichts von alledem konnte die Bevölkerung von einem Badbesuch abhalten.

Danach wurde gerne unter den großen Linden Boccia gespielt oder Eis gegessen. Am Wochenende lud der Bademeister sogar zum Grillen ein. Es gab Spanferkel oder Forelle und die Frauen des Ortes steuerten Kartoffelsalat bei.

Ein weiteres Highlight für die Kinder war damals der Kiosk auf der Burg, den eine Frau aus Wellheim betrieb. Die Schulkinder halfen ihr gewöhnlich, indem sie den Leiterwagen, der als Transportmittel diente, zur Burg hinaufzogen und die Waren ausluden. Anschließend schenkte ihnen die Kioskbetreiberin das allseits beliebte und bereits heiß ersehnte Brausepulver.

Einen besonderen Stellenwert hatte für Gerhard Reissig das Gasthaus "Zum Rübezahl", denn dort fand seine Hochzeit mit Gertraud Nürnberger statt. Es war ein kleines Lokal in der Sudetenstraße, direkt am Waldrand gelegen. Gerade samstagabends war fast kein Platz mehr zu bekommen, denn nach dem Kino am Marktplatz zog es viele Bürger den Berg hinauf. Es wurde musiziert und gesungen und der neueste Tratsch war zu hören. Neben dem Gasthaus befand sich eine kleine Fläche, auf der in den Sommermonaten das Tanzbein geschwungen wurde. Eine Herausforderung stellte für die Bierseligen stets der Nachhauseweg auf der schmalen, abschüssigen Straße dar.

Als das Lokal 1950 errichtet wurde, holte man das Material für den Dachstuhl aus Gammersfeld. Die starken Fichten- und Föhrenhölzer stammten von einem unlängst gesprengten 57 Meter hohen Mess- oder Peilturm, der mit seinem kreisenden Scheinwerfer während des Zweiten Weltkriegs als Orientierungspunkt gedient hatte. Reissigs Schwiegervater schnitt die Hölzer zurecht und verwendete sie für das Dachgebälk des Wirtshauses.

Sehr verdient gemacht hat sich Gerhard Reissig außerdem um die Josefskapelle, die früher in Richtung Hütting direkt neben der Kreisstraße stand. Da sich die Straße an dieser Stelle stark nach links krümmt, wurde die Kapelle mehrfach von Auto- und Motorradfahrern gerammt, die zu schnell unterwegs waren. Jedes Mal wurde sie dann von Wellheimer Bewohnern wieder repariert. Einmal donnerte ein Autofahrer mit solcher Wucht dagegen, dass die Kapelle um fast zehn Zentimeter verschoben wurde. Ein einheimischer Landwirt schob sie mit dem Traktor wieder an ihren alten Platz zurück und man befestigte sie ringsum mit einem Betonstreifen. Auch die Figur des heiligen Josefs verlor bei den Zusammenstößen oft Arme und Beine. Komplett zerstört wurde sie einst durch einen Jugendlichen, der nachts mit einem Eisen das dicke Schutzglas einschlug und die Figur malträtierte. Daraufhin entschlossen sich einige Wellheimer, mit Genehmigung der Forstverwaltung und der Gemeinde, die Kapelle zu versetzen. Zunächst wurde sie vermessen und dann maßgetreu - unter anderem von Gerhard Reissig - wieder aufgebaut. Eine neue Josefsfigur schnitzte ein Gemeindebewohner aus Lindenholz.

Reissig zeigte nicht nur vollen Einsatz bei der Kapellensanierung, er engagierte sich auch in zahlreichen Vereinen, wie dem Gartenbau-, Musik- und Kegelverein, und war zudem Gründungsmitglied der Wasserwacht sowie der Tischtennisabteilung. 2003 wurde ihm das Ehrenzeichen des bayerischen Ministerpräsidenten für ehrenamtliche Verdienste verliehen. Die Marktgemeinde Wellheim verliert mit Gerhard Reissig einen ihrer treuesten Mitbürger, welcher seinen Heimatort auf vielfältige Weise bereichert hat.

EK