Zwischen Kunst und Kulinarik

19.11.2009 | Stand 03.12.2020, 4:29 Uhr

 

Ingolstadt (DK) Es war bitterkalt am 22. Dezember 1808 in Wien. Beim vierstündigen Konzertabend im Theater an der Wien behielten die Zuhörer die Pelzmäntel an und froren doch erbärmlich.

Auch das Orchester war von der eisigen Kälte betroffen und spielte "in jedem Betracht mangelhaft", so die "Allgemeine Musikalisch Zeitung" – wohl auch, weil zuvor viel zu wenig geprobt worden war. Die unerfahrene Sopranistin, der Beethoven die große Szene "Ah perfido" anvertraut hatte, zitterte mehr vor Kälte und Lampenfieber als sie sang, die "Chorfantasie", die als eine Art Krönung das Konzert beschließen sollte, stiftete "eine so komplette Verwirrung im Orchester", dass Beethoven "drein rief, aufzuhören und von vorne wieder anzufangen". Und doch war der Abend ein legendäres Ereignis der Musikgeschichte. Denn bei dem sogenannten Akademiekonzert wurden die 4. und 5. Sinfonie von Ludwig van Beethoven uraufgeführt sowie dessen 4. Klavierkonzert und weitere gewichtige Werke.

Das Georgische Kammerorchester möchte mit einem Mammutkonzert am morgigen Samstag nun an die Tradition der Akademiekonzerte anknüpfen – auch wenn vieles diesmal angenehmer verlaufen wird. Der Festsaal ist sicherlich gut beheizt, durch das Programm wird Michael Atzinger als Moderator führen und in den Pausen wird man sich kulinarischen Genüssen hingeben können.

Die Hinwendung zur Tradition der Akademiekonzerte hat seinen Sinn. Denn diese Abende zählten zu den besten und seriösesten Kulturereignissen ihrer Zeit. In einem Umfeld, in dem Konzerte oft noch einen eher geringen gesellschaftlichen Stellenwert besaßen, waren sie Inseln der Hochkultur.

Konzerte im 18. und 19. Jahrhundert hatten oft einen Charakter, der heutige Konzertgänger befremden würde. Die heutige Konzertkultur mit ihrem strengen Verhaltenskodex – man darf nicht zwischen den Sätzen klatschen, man sollte sich in Abendgarderobe gewandet möglichst ernst und ruhig verhalten usw. – ist noch relativ jung.

Veredelung des Menschen

Einer ihrer Pioniere war Otto Nicolai, der Komponist der "Lustigen Weiber von Windsor". 1842 gründete er in Wien die "Philharmonischen Konzerte". Hier wollte er, frei von kommerziellen Zwängen, nur der hohen Kunst dienen und einen Ort schaffen, wo alle Menschen Brüder werden. Neu war der Fokus auf die sogenannte "klassische Musik". Vor allem die inzwischen kanonisierten Sinfonien Beethovens sollten einem breiteren Publikum vermittelt werden. Im Hintergrund standen die damals hoch angesehenen Werte der Bildung und Veredelung des Menschen. Dass Instrumentalmusik, die noch im 18. Jahrhundert als bloßer Zeitvertreib galt, überhaupt in so einen hohen Rang aufrücken konnte, war der Musikästhetik der Frühromantiker zu verdanken. Alles Ideale und Absolute, was die Menschen seit je in Religion, Philosophie und Kunst suchten, fanden sie in der Sinfonie. In weihevoller Stimmung, ja andächtig ist also diesen Offenbarungen zu lauschen. Diese Atmosphäre und die etwas steifen Rituale klassischer Konzerte sind für viele Menschen heute keine wahre Freude mehr. Aber die Idee, die Musik in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen und sie zu einer dem Theater gleichwertigen Kunst zu erheben, bleibt eine Errungenschaft, gerade im Zeitalter des medialen Gedudels.

Der Musikhistoriker Walter Salmen hat gezeigt, dass bereits im 19. Jahrhundert die Konzertwirklichkeit vielfältig war und nicht immer dem hehren Ideal entsprach. So diente 1843 in London der Raum zwischen Konzertbühne und Stuhlreihen als praktisches Forum für Plaudereien. Den Konzerten als besondere Ereignisse des Kulturlebens gingen oft festliche Diners voraus. Die danach einsetzende Verdauungstätigkeit führte dazu, dass ganze Teile des Publikums während der Sinfonie einschliefen. Den weniger edlen Genüssen frönte man sogar noch bei den Konzerten, aus denen 1882 die Berliner Philharmoniker hervorgingen: Da wurde gegessen und geraucht – und zwar "während des Sinfonie-Concerts"!

In gewissem Sinn näherte man sich damit wieder den Ursprüngen des Konzertwesens. 1713 veranstaltete Georg Philipp Telemann als einer der ersten in Deutschland Konzerte, "um durch diesen unschuldigen Zeitvertreib das von den Amts-Geschäfften ermüdete Gemüth zu erquicken". Das ebenso erquickende Speisen, Trinken und Rauchen gehörte zu dem selben Zeitvertreib.

Reißerische Ankündigung

Als bürgerliche Alternative zur Oper und zum exklusiven höfischen Musikleben wurden professionell veranstaltete Konzerte, für die man Eintritt zahlte, erst im Lauf des 18. Jahrhunderts häufiger. Damit unterwarfen sie sich bereits den Gesetzen des Marktes und der Moden. Die Veranstalter warben nicht so sehr mit der Musik selbst als mit reißerischen Ankündigungen. Gut machten sich etwa "Italiänische Sängerinnen" oder exotische Virtuosen wie Maultrommelspieler oder Vogelstimmen-Imitatoren.

Deutlich von der reißerischen Unterhaltsamkeit dieser Veranstaltungen absetzen wollten sich die Akademiekonzerte, die zu Mozarts Zeiten in Wien in Mode kamen. Diese Abende wurden meist von den Künstlern in Eigenregie veranstaltet, um als Solisten aufzutreten und um neue Kompositionen vorzustellen. Meist wurden auch weitere Solisten eingeladen, so dass sich im gemeinsamen Spiel bunte Programmfolgen ergaben. Laut Mozarts Vater Leopold, eine gute Methode "erschröcklich viel Geld einzunehmen". Mozart selbst bot bereits ganze Abonnement-Reihen an und verdiente prächtig. Und das allein mit seriöser Musik von hohem Anspruch, eine damals wie heute seltene Erscheinung. Gegessen wurde erst hinterher, dann aber richtig: "Es wurde nichts", so staunte Leopold, "als Fleischspeisen aufgetragen, das übrige war Fürstlich, am Ende Austern, das herrlichste Confect und viele Boutellien Champagner".

Doch schon 1786 war es vorbei mit dieser Pracht. Beethoven hatte dann äußerst selten die Gelegenheit, eine eigene "Akademie" zu veranstalten. Und wenn, dann nutzte er sie ausgiebig. Sein überlanger Abend am 22. Dezember 1808 war eines der letzten großen Akademiekonzerte.