Eichstätt
Zwiespältiges in der „Stadt des ewigen Frühlings“

Der Eichstätter Abiturient Korbinian Ferstl engagierte sich ein Jahr in sozialen Projekten im kolumbianischen Medellín

28.09.2017 | Stand 02.12.2020, 17:26 Uhr
Bild 1: Sichtlich viel Spaß hatte der Eichstätter Abiturient Korbinian Ferstl zusammen mit „seinen“ Projektkindern im kolumbianischen Medellín, wo er ein Jahr einen Freiwilligendienst in einer sozialen Einrichtung absolvierte. Bild 2: Ein Leben auf der Straße – für viele Kinder in Kolumbien ist dies Realität. Bild 3: Abenteuerliche Fahrten mit den typischen bunt bemalten Bussen, wie hier im Tiefland des Chocó, konnte Korbinian Ferstl während seines Aufenthaltes erleben. Bild 4: Viele kolumbianische Familien müssen mit einfachen Wohnungen auskommen, die aber immer liebevoll mit einem Jesusbild und Mobiliar ausgestattet werden. Bild 5: An den Hängen rund um Medellín liegen die Wohnviertel der ärmeren Bevölkerungsschichten, in denen Korbinian Ferstl seinen Freiwilligendienst absolvierte. Bild 6: siehe 5 Bild 7: siehe 5 Bild 8: Innovation und Modernität begegnet dem Besucher im Zentrum Medellíns. ?Fotos: Ferstl −Foto: Ferstl

Eichstätt (EK) Vor 30 Jahren noch galt Medellín, mit knapp vier Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Kolumbiens, als eine der gefährlichsten Städte weltweit. Doch von dem Ruf, der der einstigen Hochburg des Drogenhandels noch anhaftet, hat sich der 19-jährige Eichstätter Korbinian Ferstl nicht einschüchtern lassen.

Ein Jahr lang hat er in der „Stadt des ewigen Frühlings“, wie die Metropole des Andenstaates auf Grund seines angenehmen Klimas genannt wird, in verschiedenen sozialen Projekten einen Freiwilligendienst absolviert.

Ferstl bekam nach einem strengen Auswahlverfahren der Entsendeorganisation „Weltweite Initiative für Soziales Engagement e.V.“ Anfang 2016 die Zusage. Die Vision dieser Organisation, deren Kerngedanken „Lernen, Helfen und Transferieren mit dem Ziel der Völkerverständigung“ sind, hatten den jungen Eichstätter, der im Sommer 2016 sein Abitur am Willibald-Gymnasium absolvierte, sofort überzeugt: „Die Freiwilligen gehen als Lernende in die Freiwilligendienste, nicht als Besserwisser – nicht als „west-knows-best“.

„Die Freiwilligen gehen als Lernende in die Dienste, nicht alsBesserwisser .“

Korbinian Ferstl

 

Mit großer Erwartung startete der junge Eichstätter dann im September seine Reise in die „neue Welt“: „Den ganzen Tag und überall Merengue-, Salsa- und Bachata-Musik zu hören, am Abend Gras, Koks und Frauen angeboten zu bekommen, die Hupe wichtiger als rote Ampeln oder Hühnerfüße und Schweineohren zu verspeisen – das war schon eine enorme Umstellung“, erinnert sich Ferstl schmunzelnd. Sich dann noch an die Rufe „Gringo“ – die etwas abfällige Bezeichnung für US-Amerikaner – oder „Mono“ – Blonder – zu gewöhnen, verlangte ihm anfangs schon viel Geduld ab. Natürlich, mit blonden Haaren ziehe man automatisch die Aufmerksamkeit auf sich und werde auch nicht selten mit haarsträubenden Vorurteilen konfrontiert: „Viele Kolumbianer assoziieren Deutschland offensichtlich mit Hitler, Rassismus und gutem Fußball“, so der Eindruck Ferstls. Aber umgekehrt sei es ja nicht viel anders: Kolumbien werde nur allzu oft mit Gewalt, Drogen, Guerilla-Krieg und Kriminalität gleichgesetzt.

Nach den ersten vier Wochen in einer Medelliner Gastfamilie, die dem Eichstätter bessere Sprachkenntnisse und Einblicke in Familie, Traditionen und Esskultur der Kolumbianer ermöglichte, sah sich Ferstl schon bald vor die ersten großen Herausforderungen gestellt: Wohnungssuche, Alltag leben und die Projektarbeit starten. Das Schwierige dabei: „Wir waren die ersten Freiwilligen in Kolumbien überhaupt; somit gab es für uns weder eine Wohnung noch ein „fertiges“ Projekt, in das wir einsteigen konnten“, so Ferstl.

Wohnungssuche – das bedeutete Zeit, Geduld und Nerven und der schnelle Abschied von dem Gedanken, eine geeignete Vierzimmerwohnung für vier Freiwillige zu finden. Zu teuer, zu gefährlich, zu heruntergekommen – auf der Suche nach einer Unterkunft lernten Ferstl und seine Kollegen die vielfältigen Gesichter der Millionenstadt Medellín mit ihren Reichen- und Armenvierteln kennen.

Noch gravierender allerdings war die Erfahrung der Freiwilligen bei den ersten Projektbesuchen. Zwar hatten Verantwortliche der Entsendeorganisation bereits das Medellíner Sportprojekt namens „INDER“ im Vorfeld besucht, doch erwartete Ferstl hier eine herbe Enttäuschung. Unsummen von staatlichen Geldern waren scheinbar in das staatliche Sportangebot geflossen, das eine verbesserte Bürgerkultur und Lebensqualität zum Ziel hatte. Denn zum großen Erstaunen der Freiwilligen fanden sie modernste Kunstrasenplätze, ein Freibad, eine Rennstrecke für Crossräder, eine Inlineskating-Arena und über 50 angestellte Trainer für 19 Sportarten vor. Da sei es schon schwer gewesen, etwas anzubieten, was es noch nicht gab oder mit den Qualitäten der bezahlten Trainer mitzuhalten zu können, erinnert sich Ferstl nicht ohne Enttäuschung. „Mir war schnell klar, dass ich hier kein ganzes Jahr den Trainern die Hütchen hinterhertragen und auch kein Projekt unterstützen wollte, das so mit Geld um sich wirft und mich nun wirklich überhaupt nicht brauchen kann.“ Eine unerwartete Erfahrung, die die Widersprüchlichkeiten eines Landes mit großen sozialen Unterschieden drastisch aufzeigte.

Schwierige Wochen der eigenständigen Suche nach neuen sozialen Einsatzmöglichkeiten von Ferstl und seinen Mitfreiwilligen folgten. Erst Anfang April 2017 startete Ferstl in einem neuen Projekt, der „Corporación Primavera“ (Korporation Frühling), einer kleinen sozialen Einrichtung, die vor rund 25 Jahren von Ordensschwestern als Auffangort für Prostituierte aus dem berüchtigten Stadtteil Lovaina im Zentrum Medellíns gegründet wurde, heute aus einem Kindergarten, einer Frauenschutzorganisation und einem Freizeitprogramm besteht.

Schnell habe er das freundschaftliche und familiäre Verhältnis zu den Mitarbeitern geschätzt, sich aber auch an das Engagement in einem Viertel gewöhnen müssen, in dem Drogenhandel und Prostitution, Armut und Elend, Kriminalität und der tägliche Kampf um das nackte Überleben zum Alltag gehören. Eine der schlimmsten Erfahrungen: die „Inquilinatos“, ehemalige Bordelle, in denen jedes Zimmer einzeln, oftmals an eine ganze Familie vermietet wird: „Diese Zimmer sind ein Chaos aus Essen, Matratzen und schmutzigen Klamotten, oft ohne Fenster, weshalb es dunkel und feucht ist“, berichtet Ferstl. Im Zimmer eines Projektkindes sei ihm eine regelrechte Urinwand entgegengekommen, weil die Geschwister ins Zimmer oder Bett machten; überall hänge der Geruch von Gras und „Basuco“, dem billigsten und schädlichsten Abfallstoff von Koks: „Wenn Kinder in einem solchen Haus aufwachsen, in dem Prostituierte arbeiten, Drogenabhängige konsumieren und Kriminelle ihre Machenschaften vorbereiten, kann man sich denken, welche Folgen dieses Umfeld auf Kindheit und Entwicklung haben – von gesundheitlichen Problemen aufgrund der katastrophalen Hygiene und Mangelernährung abgesehen“, betont Ferstl.

Es sei schwer gewesen, mit Kindern aus diesem harten Lebenskontext zu arbeiten, deren Lebensgeschichten so weit von denen deutscher Kinder entfernt seien. Doch mit der Zeit habe er gelernt, damit umzugehen und den Sinn seiner Freiwilligenarbeit für sich selbst besser zu definieren. Viel hat Korbinian Ferstl ausprobiert, um seinen Zöglingen in Lovaina zu helfen, sie abzulenken, zu beschäftigen, ihnen vor allem das zu schenken, was ihnen am meisten fehlt: Aufmerksamkeit und Zeit. Deutsch- und Englischstunden, Fußballtraining, Computer-, Lesestunden.

Zu Beginn seiner Arbeit habe ihn sein deutsches, ergebnisorientiertes Denken geleitet. Doch bald schon habe er den Sinn seiner Arbeit eher in einer indirekten Rolle gesehen: den Kindern einen Rückzugsort von den vielfältigen Problemen zu Hause bieten, einen anderen Lebensstil in Sachen gewaltfreie Konfliktlösung, respektvollem Umgang, Verantwortungsbewusstsein vorleben, aufzeigen, dass man nicht sein Leben lang Drogen verkaufen oder sich prostituieren muss, sondern dass es auch alternative Lebenswege für jeden Menschen gibt. Dies sei das Ziel der „Corporación“ und auch seiner Arbeit, so Ferstl: „Natürlich ist klar, dass nicht alle Projektkinder die Kurve kriegen und leider werden auch manche in Kriminalität oder Prostitution enden. Aber wenn es nur zwei oder drei Kinder sind, die durch die Arbeit der „Corporacion“ ihr Leben ändern, ist das schon ein Erfolg.“

Ein Jahr Medellín – ein Resümee? Nach einem holprigen Start habe er eine sehr gute Zeit seines Freiwilligendienstes erlebt, in der er sich auch in seiner Freizeit sinnvoll engagieren konnte. Wenn er einmal durchschnaufen musste, habe er für 20 Dollar per Flug in nur einer Stunde an die Karibikküste fliegen und spontan ein Wochenende unter Palmen verbringen können, so blickt Ferstl auf seine letzten Monate zurück.
 

Serie

Viele Reiseziele, die Sonne pur, Strand und Meer versprechen, locken. Aber manche Eichstätter zieht es zu anderen Orten in der Welt: Freiwilligendienste in Palästina und Tansania, soziales Engagement in Chile und Kolumbien, in den USA und Kanada. Wie erleben sie die Begegnung mit einer neuen Lebenswelt und gänzlich anderen Kultur – viele Tausend Kilometer von der Heimat entfernt? Unsere Zeitung berichtet in loser Folge von interessanten und spannenden Auslandsaufenthalten von „Eichstättern in aller Welt“, die ihre Erfahrungen nicht nur als persönlichen Gewinn, sondern oft auch als eine Bereicherung für die Menschen im Gastland verbuchen können. ddk