Neuburg
Zweifel um den großen Zweifler

War Descartes nie in Neuburg? Der Historiker Otmar Gratzl sucht nach dem Aufenthaltsort des großen Philosophen

28.12.2011 | Stand 03.12.2020, 2:00 Uhr

Das Descartes-Gymnasium ist stolz auf seinen Namen – und will ihn behalten. - Foto: Schanz

Neuburg (DK) Es war die Geburtsstunde einer großen Idee: Nicht weniger als sein geistiges Erweckungserlebnis soll der Philosoph René Descartes in Neuburg gehabt haben. Doch der Historiker Otmar Gratzl zweifelt im Kollektaneenblatt an dieser Theorie. Muss das Gymnasium deshalb umbenannt werden

Von Windböen niedergedrückt, von glühenden Funken umgeben, in wissenschaftlichen Studien versunken: Drei visionäre Träume in der Nacht vom 10. auf den 11. November 1619 beschrieb Descartes selbst als Wendepunkt in seinem Leben. Sie erweckten in ihm die Idee, welche geistige Richtung er von nun an einschlagen solle – die Königin der Wissenschaften, die Philosophie, auf eine gesicherte Grundlage zu stellen. Mit seinem „cogito ergo sum“ – ich denke also bin ich – wollte er einen über alle Zweifel erhabenen ersten Satz schaffen. „Selbst unter der Annahme, dass meine sämtlichen Gedankeninhalte und gegenständlichen Vorstellungen falsch sind, habe ich doch die Gewissheit, dass ich denke“, erklärt der Philosophieprofessor Peter Prechtl diesen Beginn der modernen Erkenntnistheorie. Selbst wenn ich alles um mich herum bezweifle, steht doch fest, dass ich zweifle.

Der Zweifel steht auch im Mittelpunkt der Untersuchungen Otmar Gratzls. In der druckfrischen Ausgabe des Neuburger Kollektaneenblattes geht er der Frage nach, ob Descartes in jener einsamen Novembernacht – wie oft behauptet – in Neuburg war. Das Ergebnis seines siebenseitigen Essays ist ernüchternd, aber nicht vernichtend: Demnach gibt es keinen sicheren Hinweis, dass sich der 23-jährige Freiwillige im bayerischen Kriegsdienst im Winterquartier in Neuburg aufgehalten hat – Ulm und Lauingen könnten es ebenso gut gewesen sein.

Gratzl war selbst Schüler am Neuburger Descartes-Gymnasium, später Professor in Basel. Er begab sich auf Spurensuche in verschiedensten Quellen, von historischen Aufzeichnungen über Biografien bis hin zu literarischen Werken. Für Ulm sprechen Kriegsberichte über Truppenansammlungen und die Nähe zu wissenschaftlichen Debatten um den Mathematiker Faulhaber, die Descartes offenbar beeinflussten. Lauingen ist denkbar, weil es zur besagten Zeit zum pfalz-neuburgischen Territorium gehörte und in einigen Texten als Winterquartier genannt wird.

Für Neuburg spricht etwa die Widmung des Jesuiten-Mönches Johannes Molitor in einem Buch, das er Descartes – selbst in einem Jesuiten-Seminar aufgewachsen – offenbar geschenkt hat. Es wird vermutet, dass eben jenes Buch in einem Jesuiten-Kolleg in Neuburg gefunden wurde, das 1616 gegründet und 1773 aufgelöst worden sei. Neuburg habe damals auch als Hochburg der Lehren des Paracelsus gegolten: Ottheinrich sei ein Förderer dieser medizinischen und philosophischen Lehren gewesen – und Descartes sehr daran interessiert.

„Für den Historiker gibt es zwar einige Indizien, Quellen für das Winterquartier der ligistischen Truppen und der pappenheimischen Reiter, jedoch eine namentliche Erwähnung des Kriegsdienste leistenden Descartes und seines Aufenthaltsortes im Winter 1619/1620 wurde ebenso wenig aufgefunden wie persönliche Angaben in Briefen“, resümiert Gratzl.

Nichts Genaues weiß man also nicht. Es könnte somit durchaus sein, dass Descartes niemals in Neuburg weilte. Bringt das nun das Descartes-Gymnasium ins Wanken? Nein, findet Franz Hofmeier. Der Schulleiter bleibt gelassen. Was zähle, sei nicht der genaue Ort, sondern vielmehr die wegweisende Philosophie Descartes, erklärt er auf Nachfrage unserer Zeitung. Der Name müsse also nicht überdacht werden, ganz gleich, was künftige Forschungen über den Aufenthaltsort ans Licht bringen sollten.

Was diesen Ort angeht, bringt Gratzl noch eine These ins Spiel: Wenn man davon ausgeht, dass Descartes doch in Neuburg war, ist es wahrscheinlich, dass er in der Rennbahn verweilte. „Hier befand sich schon zu Zeiten des ersten Pfalzgrafen Ottheinrich ein ,Stech- und Turnierplatz' im heutigen nördlichen Teil der Luitpoldstraße. Die anliegende Brauerei und Bierwirtschaft wurde nach dem Turnierplatz ,Rennbahn' benannt“, schreibt der Historiker – für Neuburg versöhnliche Sätze.