Zappeln im Weltenrund

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens: Mareike Mikat inszeniert "Einige Nachrichten an das All" am Stadttheater Ingolstadt

13.02.2020 | Stand 23.09.2023, 10:37 Uhr |
Kuriose Versuchsanordnung: Purl (Philip Lemke) und Lum (Jan Beller) mit der Moderatorin der Show (Sarah Schulze-Tenberge). − Foto: Olah

Ingolstadt - "Was soll das denn bedeuten?", fragt Lum resigniert. "Ich weiß auch nicht", entgegnet Purl, "später. . . , später. . . , wenn es einen Zusammenhang geben wird. . . dann werden wir es schon verstehen. " Wir befinden uns auf Seite 17 von 67 Seiten. Und die Verzweiflung von Lum und Purl hat einen ersten Peak erreicht.

Gerade haben die beiden herausgefunden, dass sie nur Figuren in einem Theaterstück sind. Ein Stück, das sie allerdings nicht kennen. Wenn sie die Bühne verlassen, so ihre Sorge, verlischt ihr Dasein. Also harren sie aus unter einer traurigen Baumruine, rauchen imaginäre Zigaretten, halten sich an den Händen, schlafen einen tiefen Erschöpfungsschlaf und machen sich auf die Suche nach etwas, das ihrer Existenz Sinn verleiht. "Ein Kind", sagt Purl schließlich. "Dann wäre es auch nicht mehr so wichtig, ob das hier alles eine Handlung hat. " Lum und Purl wollen ein Kind - aller biologischen Wahrscheinlichkeit zum Trotz. Fortan warten sie auf ein Kind wie Estragon und Wladimir auf Godot.

Und während Becketts metaphysische Clowns-Widergänger dieses Warten zelebrieren, führen Kinder der Kinderkrebsstation ein Krippenspiel auf, pöbelt Kleist durch eine Unterhaltungsshow, fällt ein Gürkchen vom Brot ins Wiesenschaumkraut, verliert ein Vater seine Tochter, beklagt ein Unhold den Weltraumschrott, sendet eine Moderatorin Nachrichten an das All, "damit man dort erfährt, was uns Menschen bewegt - was treibt uns um, was sind unsere Ängste, was sind unsere Sehnsüchte, was unsere Hoffnungen, wie ticken wir - kurz: Wer sind wir eigentlich? "

"Einige Nachrichten an das All" hat Wolfram Lotz sein Theaterstück genannt, das sich mit komischer Vehemenz gegen seine Inszenierung sperrt. "Wir befinden uns in einer Explosion", hat er dem Stück vorangestellt. Und präsentiert statt einer klassischen, linearen, logischen Handlung Splitter einer verstörenden Gegenwart, in der eine Handvoll verrückter Figuren Fragen nach dem Sinn des Lebens wälzt, nach Strategien sucht, das Chaos zu bewältigen, während 64 Fußnoten in GROSSBUCHSTABEN, die den Text unterbrechen, kommentieren, mit Assoziationen anreichern, darauf warten, irgendwie ins Spiel integriert zu werden. Das ist maßlos. Das ist dreist. Das ist pure Theateranarchie.

Am Stadttheater Ingolstadt hatte man die Produktion der Regisseurin Maaike van Langen anvertraut, sich wegen künstlerischer Differenzen jedoch kurz vor der geplanten Premiere von ihr getrennt. Oberspielleiterin Mareike Mikat übernahm und brachte das Stück nun mit einer knappen Woche Verspätung heraus. Als wilden Spaß. Zum Lachen. Zum Weinen. Zum Weiterdenken. Die Premiere am Mittwochabend wurde nach knapp zwei Stunden laut und anhaltend beklatscht.

Denn der Inszenierung gelingt auf verblüffende Weise, die Balance zu halten zwischen Exaltiertheit und Poesie, Wahnwitz und Anmut, Zartheit und Klimbim, Tragik und Komik. Es geht um Leben und Tod, wie wir die Zeit dazwischen füllen oder uns Hoffnung machen auf ein Darüberhinaus. Was ist? Was bleibt? Und kann man im Hamsterrad auch mal träumen? Autor Wolfram Lotz führt uns erschreckend klar unsere Rat- und Rastlosigkeit vor, unser Beharren auf Glücksversprechen, unser hilfloses Zappeln im Weltenrund.

Regisseurin Mareike Mikat hat für diesen tragikomischen Reigen ein fulminantes Ensemble zur Verfügung. Im Zentrum stehen natürlich Jan Beller und Philip Lemke als Lum und Purl, die ein berührendes Clownsduo abgeben. Wie sie um ihre Existenz ringen, sich an Regieanweisungen abarbeiten, das Geschehen kommentieren, ihrer Sehnsucht frönen und schließlich gegen den Autor rebellieren - das ist herzzerreißend kurios.

Szenenapplaus gibt es für Sarah Schulze-Tenberge, die als "Leiterin des Fortgangs" die Unterhaltungsshow moderiert, in der sie Persönlichkeiten aus Medien und Historie nötigt, das Konzentrat ihres Seins in einem Wort als Nachrichten ans All zu senden. "Mama", "Bums" und "Unterhaltung" lauten am Ende diese Nachrichten. Was sie wohl über die Spezies Mensch aussagen?

Herrlich in seiner Hysterie auch Felix Steinhardt als Kleist, dem Emma Putzinger als tote Hilda Paroli bietet. Jan Gebauer glänzt als Forscher Rafinesque mit beflissener Affektiertheit. Karolina Nägele sorgt als dicke Frau im Fatsuit mit schamhaftem Kleinmädchen-Charme für aberwitzige und stille Momente. Theresa Weihmayr wird als phrasendreschendes wie orientierungsloses Sahra-Wagenknecht-Lookalike bejubelt und Michael Amelung gibt den ferngesteuerten, trauernden Vater. Ziemlich viel Trash hier. Aber Fiktion oder Realität: Allesamt sind es Figuren, die sich gegen innere Leere wappnen, den Schmerz betäuben, der Angst entfliehen wollen.

In Jürgen Kirners kühner Ästhetik aus Glitzer und Nichts taumeln sie zu Eniks atmosphärischen, wabernden, digitalen Sounds durch das Universum. Jeder ein Abgrund. Immer wieder gelingen den Schauspielern mit Energie, Präzision und Fantasie virtuose Kabinettstückchen.

Und die Fußnoten? Da muss Souffleuse Susanne Wimmer ran, die auf einem Tennis-Schiedsrichter-Stuhl Stichworte gibt, Fußnoten liest, Zwischentitel hochhält und so zumindest für eine Weile für Struktur im Chaos sorgt. Soviel ist klar: Den Sinn des Lebens wird man an diesem Abend nicht finden. Dafür eine Theaterwelt so traurig und schön, so bizarr und bunt, dass man sich beherzt weiter auf die Suche begibt. Langer Applaus!

DK

ZUM STÜCK
Theater:
Stadttheater Ingolstadt,
Kleines Haus
Regie:
Mareike Mikat und
Lisa-Maria Schacher
Ausstattung:
Jürgen Kirner
Musik:
Enik
Aufführungen:
bis 28. April
Kartentelefon:
(0841) 30547200

Anja Witzke

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