Erbil
"Wir spüren die Solidarität der Welt"

Der Bürgermeister der nordirakischen Kurden-Metropole Erbil über den Kampf gegen den IS und die Not der Flüchtlinge

02.10.2014 | Stand 02.12.2020, 22:10 Uhr

Nihad Qoja, der Bürgermeister von Erbil - Foto: oh

Erbil (DK) Die Vereinten Nationen haben eine diplomatische Vertretung, die USA – und auch Deutschland. Die nordirakische Millionenstadt Erbil ist Zentrum des weitgehend selbstständigen Kurdengebiets im umkämpften Irak – und darf doch offiziell keine Hauptstadt sein.

Denn ein eigener Kurdenstaat würde den Irak sprengen. Wir sprachen mit dem Bürgermeister der Stadt, Nihad Qoja, über den Kampf gegen die Terrormiliz IS und die Zukunft des Irak.

 

Herr Qoja, vor wenigen Wochen noch drohte Ihre Stadt in die Hände von IS-Kämpfern zu fallen. Ist der Vormarsch der Islamisten inzwischen gestoppt?

Nihad Qoja: Der Vormarsch ist glücklicherweise beendet und IS wieder zurückgedrängt worden. Die kurdische Peschmerga-Armee hat viele Gebiete zurückerobert. IS ist sehr geschwächt im Augenblick. Sie sind nicht mehr in der Lage, größere Offensiven zu starten und neue Gebiete zu erobern. Wir hören in den letzten Tagen immer wieder Berichte, dass sie ihre Kämpfer aus dem Raum Mossul nach Syrien Richtung türkische Grenze abziehen.

 

Wie wichtig ist für die Kurden die Waffenhilfe aus Deutschland?

Qoja: Die Waffen aus Deutschland haben geholfen, aber das war es nicht allein. Die neue, internationale Allianz als Ganzes hat den Kurden ermöglicht, ihr Gebiet selbst zu behaupten und zu schützen. Die Bürger meiner Stadt waren in großer Gefahr wegen der Bedrohung. Jetzt spüren wir neue Hoffnung und die Solidarität der Welt. Die Menschen in Erbil fühlen sich so sicher, dass sie wieder ihrem normalen Leben nachgehen. Sie lachen wieder und sind sehr dankbar für die Unterstützung.

 

Sind Sie enttäuscht, dass sich Deutschland nicht an den Luftangriffen und Militäraktionen gegen die Terrormiliz IS beteiligt?

Qoja: Nein. Das müssen die Alliierten unter sich ausmachen. Wir wissen, dass schon die Waffenlieferungen an die Kurden für Deutschland eine kleine Revolution waren. Normalerweise exportieren die Deutschen keine Waffen in Krisengebiete. Das war für Ihr Land eine Wende in der Außenpolitik. Ich bin mir sicher: Deutschland wird in Zukunft mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Klar ist, dass wir keine internationalen Bodentruppen benötigen werden. Luftangriffe und Waffenlieferungen reichen aus, um unser Gebiet zu schützen.

 

Droht in diesem Winter eine Flüchtlingskatastrophe hier im Nordirak?

Qoja: Wenn die internationale Hilfe nicht rechtzeitig ankommt, werden wir eine große Katastrophe erleben. Dann werden wir es in unserer Region mit hunderttausenden hungernden Flüchtlingen zu tun haben, mit Seuchen und vielen Toten. Zusammen mit den internationalen Hilfsorganisationen wollen wir das Problem lösen und alle notwendigen Vorkehrungen treffen. Noch ist es nicht zu spät.

 

Wird der Irak als Staat über kurz oder lang scheitern und auseinanderbrechen?

Qoja: Viele Menschen äußern sich zuversichtlich über die neue Regierung in Bagdad. Man muss dieser Regierung mindestens sechs Monate Zeit geben, um sich zu finden. Wenn sich die Fehler der Vergangenheit wiederholen, wird der Irak zerfallen. Wenn der neue Ministerpräsident Al-Abadi die Verfassung achtet und auch die Sunniten an der Macht beteiligt, hat der Irak als Ganzes noch eine Chance. Und selbst wenn sich die Kurden eines Tages über politische Unabhängigkeit Gedanken machen werden, wollen wir einen freundlichen und friedlichen Übergang – so wie damals in der Tschechoslowakei.