Das Chaos von Giesing

02.10.2014 | Stand 02.12.2020, 22:10 Uhr
Einmal Löwe, immer Löwe: Unter den Fans des TSV 1860 München ist das ein Lebensmotto. Für viele bedeutet es auch: lebenslanges Leiden. −Foto: Oliver Strisch

München (dk) Trainer entlassen, Klubführung auf der Kippe: Bei 1860 München herrscht wieder der ganz normale Wahnsinn. Warum tut sich der Klub, der mal Münchens Nummer 1 war, das an? Ein Besuch bei Menschen, die es wissen könnten.

Der König von Giesing wohnt in einem weißen Einfamilienhaus im niederbayerischen Elsendorf. Eine Hecke fasst das Grundstück ein, hinter dem Haus liegt ein Acker im trüben Herbstlicht. Im Wohnzimmer eine massive Schrankwand, Teller an den Wänden, Krüge auf Kommoden. Der König – 73 Jahre alt, blau-weißes Hemd, Lederjacke – sitzt auf seiner hölzernen Eckbank. In einem Aktenordner aus dem Keller schlummern die Erinnerungen. Zeitungsartikel und Fotos von damals.

Der König ist Karsten Wettberg. Er war mal Trainer des TSV 1860 München. Wettberg übernahm die „Löwen“ in der Bayernliga, damals die dritthöchste Spielklasse. „Das hat Sechzig einfach nicht entsprochen“, sagt Wettberg. Jahrelang hatte der Verein vergeblich versucht, wieder in die Zweite Bundesliga aufzusteigen. Und der kleine Mann hatte schon mehrere Klubs erfolgreich geführt – darunter den MTV Ingolstadt.

Wettberg kam 1990. Ein gutes Jahr später: der Aufstieg. Tausende jubelten auf dem Marienplatz. „Ich bin zwar euer Oberbürgermeister“, rief der damalige Rathauschef Georg Kronawitter (SPD). „Doch heute habt ihr einen König: Den König von Giesing, Karsten Wettberg.“ Es war einer der größten Glücksmomente in der Geschichte des Vereins, der in dem Münchner Stadtteil seine Heimat hat.

Auch heute spielen die Löwen in der Zweiten Liga. Zufrieden ist damit aber keiner. Zu viel ist seitdem passiert. Der abermalige Abstieg in die Drittklassigkeit, gefolgt vom Durchmarsch in die Bundesliga. Nur knapp scheiterte man an der Qualifikation zur Champions League, bevor das Finanzdesaster um den Bau der Allianz-Arena hereinbrach. Dann der erneute Abstieg. Zuletzt die Beinahepleite und der rettende Einstieg eines jordanischen Investors.

Von einem echten Glücksmoment sind die Löwen gerade mal wieder weit entfernt. Zwölfter Platz in Liga zwei. An diesem Freitagabend hofft der Klub auf einen Sieg beim VfR Aalen. Aber der Aufstiegsplatz ist in weiter Ferne. Seit dem Bundesligaabstieg vor zehn Jahren will kaum noch etwas gelingen.

Ein Vormittag in der vergangenen Woche. Der Himmel über dem Trainingsgelände an der Grünwalder Straße ist grau. Auf dem Platz wärmt sich die Mannschaft auf. An der Metallstange am Rand lehnen Zuschauer: die Kiebitze. Mäßige Laune in der Runde. Vor einer Woche ist wieder mal der Trainer rausgeflogen. Der Co-Trainer ist eingesprungen. Aber es kursiert wieder ein großer Name: Bernd Schuster, einstmals Nationalspieler und Star bei Real Madrid und dem FC Barcelona. Unter den Kiebitzen will aber niemand Schuster als Trainer. „Der red’ doch wieder nur recht g’scheit daher“, sagt ein älterer Mann in Lederhosen und verzieht das Gesicht.

Die Trainerfrage ist aber nicht das größte Problem bei den Löwen. Die Vereinsführung steht auf der Kippe. Ein langjähriges Mitglied hat sie verklagt. Ex-Präsident Dieter Schneider hatte im vergangenen Jahr zwar erklärt, nicht mehr zur Wahl zu stehen. Formal ist er aber nie zurückgetreten. Deshalb könne auch der damals ins Amt gekommene Präsident Gerhard Mayrhofer nicht Klubchef bleiben, meint das Mitglied. Die Justiz gibt ihm teilweise recht. Derzeit kann Mayrhofer den Verein nur mit einem Notvorstand führen. Eine Posse, wie sie wohl nur in wenigen Profivereinen möglich ist.

Nach dem Training gehen die Spieler vom Platz. Aber fast jeder muss kurz stehen bleiben. Eine Fangruppe verlangt Fotos. Die Spieler machen mit. Das gehört hier dazu. Eben ganz anders als beim FC Bayern – darauf weist einen hier fast jeder hin. „Der FC Bayern – das ist Zirkus. Hier gibt es noch Herz“, sagt einer.

Bloß nicht wie die großen Bayern – unter den Fans ist die Abgrenzung Teil ihrer Identität. Dabei waren die Löwen eigentlich mal der Platzhirsch in München. Das war in den 60er Jahren. Deutscher Meister 1966, zwei Jahre vorher Pokalsieger. Im Europacup der Pokalsieger verlor man erst im Finale gegen Westham United. Die Bayern stiegen erst 1965 in die Bundesliga auf. Wer damals zwischen beiden Vereinen wählen konnte, ging zu den Löwen – eigentlich.

Es gibt dazu eine Anekdote von Franz Beckenbauer. Als der „Kaiser“ als 13-Jähriger noch beim SC 1906 München spielte, verpasste ihm ein Jugendspieler der Sechziger mal eine Watschn. Eigentlich hatte er zu den Löwen wechseln wollen. Danach überlegte er es sich anders: Er ging zum FC Bayern. Mancher meint, Beckenbauer wäre bei den Löwen versauert. Andere sagen, hätte es die Watschn nicht gegeben, wäre 1860 München immer noch die große Nummer in der Stadt.

Wie die Geschichte weiterging, weiß jeder: Der FC Bayern gewann seitdem 23-mal die Deutsche Meisterschaft, fünf-mal den europäischen Landesmeisterpokal. Bei den Löwen kam kein Titel dazu. Stattdessen Pleiten, Pech und Pannen.

Aber es ist eben nicht so, dass man die Bayern beneidet. Zu viel Kommerz, zu wenig Volksnähe – so sieht man es bei den Löwen. Man will ein Underdog sein – ganz bewusst. Aber eben ein Underdog, der irgendwann wieder Deutscher Meister wird.

Neben dem Trainingsplatz schlägt das Herz des Vereins: im Löwenstüberl. Draußen spielt Wirtin Christl Estermann mit den Gästen Schafkopf. Drinnen hängt ein wandfüllendes Plakat der Meistermannschaft von 1966. Davor sitzt Franz Hell. „Die Helden meiner Kindheit“, sagt er. Hell, ein großer Mann Anfang sechzig, hat in den vergangenen 40 Jahren kaum ein Spiel der Löwen verpasst. Wenn einer den Verein verstehe, dann er, heißt es unter Fans.

Es gebe bei den Löwen alles, aber keine Geduld, sagt Hell. Es fehle die Konstanz, die gesunde Mitte. „Bei Sechzig gibt es nur schwarz und weiß, zweimal gewinnen heißt gleich Aufstieg, zweimal verlieren heißt gleich Untergang.“ Es ist wie bei vielen Traditionsvereinen, in denen die Vergangenheit größer war, als es die Gegenwart ist: Die Erwartungen sind unermesslich.

Der Druck ist groß. Das Umfeld wird schnell unruhig. „Es gibt immer ein paar, die ihr eigenes Süppchen kochen, aber das schadet dem Verein“, sagt Hell. Die derzeitige Klage gegen die Klubführung ist dafür nur ein Beispiel.

Was in der Vergangenheit falsch lief? „Wir haben zu oft versucht, den FC Bayern nachzuahmen“, sagt Hell. Der Verein müsse wieder mehr seinen eigenen Weg gehen. Als größter Fehler gilt, dass die Löwen unter dem früheren Präsidenten Karl-Heinz Wildmoser gemeinsam mit den Bayern die Allianz-Arena finanzieren wollten. Heute gehört das Stadion den Bayern allein. Aber die Spätfolgen des Deals kosten Sechzig jedes Jahr noch immer Unsummen.

Die Stadionfrage schmerzt. Viele Fans wünschen sich ins Grünwalder Stadion in Giesing zurück – in die alte Heimat. Nicht jeder will einsehen, dass das kleine Stadion mitten in der Stadt für einen modernen Profiklub keine Heimat mehr sein kann. In der jetzigen Vereinsführung gibt es Überlegungen für ein neues Stadion. Aber wer soll das bezahlen? Der jordanische Investor? Für einen Verein, der in der Zweiten Liga vor sich hindümpelt?

Karsten Wettberg, der König von Giesing, rückt auf der Eckbank nach vorne, legt die Stirn in Falten. Er sagt: „Zwei Jahre noch und dann muss man oben sein – ansonsten...“ Wettberg spricht den Satz nicht zu Ende.

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