"Wir müssen auf uns selbst aufpassen"

Stadttheater Ingolstadt: Ab Mittwoch gehen Donald Berkenhoff und seine "Literalounge" online

08.05.2020 | Stand 02.12.2020, 11:23 Uhr
Ralf Lichtenberg −Foto: Johanna Landsberg

Ingolstadt - Lesen hilft immer. "Literalounge" heißt die Lesereihe des Stadttheaters Ingolstadt, die sich der ehemalige Chefdramaturg Donald Berkenhoff ausgedacht hat. Sechs Mal pro Spielzeit stellte er jeweils am ersten Mittwoch im Monat Neuerscheinungen des Buchmarktes vor. Auch in Corona-Zeiten soll es weitergehen. Weil die Spielstätten geschlossen sind, eben online. Die Schauspieler lesen in Ingolstadt, Donald Berkenhoff moderiert aus Berlin. Am Mittwoch geht es los.

 

Herr Berkenhoff, Sie erleben den Lockdown in Berlin. Das Kulturleben liegt brach. Wie fühlt sich das an? Wie hat sich die Stadt, wie haben Sie sich verändert?

Donald Berkenhoff: Erst war die Stadt leer. Unheimlich. Fast tot. Aber dann wurde das Wetter schöner. Und man musste genauer hinschauen. Nur die Masken und die Distanz erzählen von der Krankheit. Manchmal auch nicht.   Inzwischen wird  dagegen demonstriert. Einige meiner Bekannten haben sich abstrusen Verschwörungstheorien angeschlossen. Und umgehen trotzig das Kontaktverbot. Der samstägliche Wochenmarkt um die Ecke ist so voll, dass ich lieber einen Vermeidungsumweg gehe. Museen zu, Theater dicht. Im Art-Magazin kann man Besprechungen von Ausstellungen lesen, die wahrscheinlich nie zu sehen sein werden. Die wahren Abenteuer sind im Kopf.

Was machen Sie gerade? Wie kommt Ihr Roman voran?
Berkenhoff: Ich lese, zum Glück sind die Buchläden wieder offen. Ich schreibe. Ich schaue mir Serien an. Da ich noch immer im Kosmos meines eigenen Romans bin, fällt es mir kaum auf, wie es Tag wird und dann wieder Nacht. Der Krimi nimmt einen Umfang an, der die Bezeichnung Roman langsam verdient. Eine Hürde ist genommen, die Lektorin mochte die erste Fassung. Jetzt geht es an die Feinarbeit.

Die Theater sind zu. Auch in Ingolstadt. Jetzt gibt es zumindest die "Literalounge" als Stream. Wie wird das aussehen?
Berkenhoff: Die "Literalounge" hat ja ein Abo. Und eine Veranstaltung sind wir den Besuchern noch schuldig. Die produzieren wir jetzt. Diese Videos sind ja nicht für die Länge einer normalen Veranstaltung gemacht. Deshalb gibt es eine Shortcuts-Version. Viermal, am Mittwochabend, wird eine Folge ins Netz gestellt. Ein neuer Roman, ein Schauspieler liest, und ich erzähle was. Und es gibt ein kleines Quiz, da kann man das besprochene Buch gewinnen.
Sind Sie dann zugeschaltet? Oder wie kommunizieren Sie?
Berkenhoff: Ich werde aufgezeichnet. Setze mich vor meine Bücherwand. Die müsste ich jetzt aber erst ins Wohnzimmer schaffen. Mal sehn.

Welche Bücher haben Sie für die "Literalounge 2.0" ausgesucht und warum?
Berkenhoff: Wie immer, nur Bücher, die mir gefallen. Ich beginne mit Mahir Guvens "Zwei Brüder". Die Geschichte eines jungen Mannes, der in den Dschihad zieht. Aber eines Tages wieder bei seinem Bruder in Paris vor der Türe steht. Sehr spannend, ist er ein Schläfer? In den Wochen drauf empfehle ich Cihan Acars "Hawaii", für mich das Buch des Jahres, über einen Aufstand, der in Heilbronn ausbricht. Dann eine sehr moderne Liebesgeschichte, Leif Randts "Allegro pastell". Und einen spannenden witzigen Schmöker über einen Whistleblower,  Benjamin Quaderers "Für immer die Alpen". Diese Bücher liegen mir am Herzen, denn sie sind in der Corona-Hysterie etwas untergegangen. Und das haben sie nicht verdient.

Welche Schauspieler werden lesen? Und lesen die im Theater oder bei sich zuhause?
Berkenhoff: Es lesen die Damen Voss und Frohn. Und die Herren Lichtenberg und Zajgier. Und sie lesen in einem extra für sie eingerichteten Salon.

Viele Theater behelfen sich mit Formaten im Internet. Streamen Sie?
Berkenhoff: Ja, ich habe etliches gesehen. Und wenig hat mir gefallen. Man kann nicht einfach Videos ins Netz stellen. Das ist eine Kunstform. Und die hat ihre Gesetzmäßigkeiten. Streaming ist schwierig. Theaterschauspieler spielen immer für die letzte Reihe. Das ist vor der Kamera kaum zu ertragen, wenn die Aufführungen einfach abgefilmt sind. Eine Ausnahme war für mich Milo Raus "Die Wiederholung" im Streaming der Schaubühne. Der Abend hat mich abgeholt und nicht wieder zurückgebracht. Oper und Tanz gehen besser. Aber gar nicht gehen die Videos, die alle gleich aussehen. Die gleichen Witze, das gleiche "Bleibt zuhause", etc. Die Kopie der Kopie, danke, wir haben es schon gesehen. Christopher Rüping versucht in Zürich etwas mit den Folgen von "Dekalog". Und dieses Leipziger Kafkaprojekt "k", experimentell zwischen Life-Performance und Vorproduziertem. Das ist spannend.

 

Was macht Corona mit der Gesellschaft?
Berkenhoff: Es gibt ein Misstrauen. Wie viele Menschen sich wirren Theorien anschließen. Und wie viele einem Sozialdarwinismus das Wort reden. Was ist die Wiedereröffnung eines Coffee-Shops gegen ein Menschenleben? Wir schauen uns an, im extremen Raum treffen sich inzwischen sogar die radikal Linken mit den radikal Rechten. Ein Virus hat keinen Sinn. Und ich glaube auch nicht daran, dass alles auch etwas Gutes hat. Aber das Denken und Verhalten ist erschreckend. Und die Erkenntnis ist nicht löschbar.

Wie glauben Sie, wird die nächste Theatersaison aussehen - in punkto Stücke, Spielweise, Räume, Zuschauer?
Berkenhoff: Mir ist es ja Recht, wenn etwas mehr Platz im Zuschauerraum ist. Weiß ich wenigstens, wo ich mit meinen Beinen hin soll. Aber wir alle wissen, dass die meisten Stücke in einem ausverkauften Saal besser funktionieren. Besonders, wenn es um gemeinsames Lachen geht. Man wird nach Stücken suchen, die stark auf den Einzelnen wirken. Aber was soll man spielen? Wollen die Menschen das, was sie erleben und auf der Straße sehen, nochmal vorgespielt bekommen? Hilft uns eine Dramatisierung der "Pest"? Ich könnte mir vorstellen, das Stücke über Isolation funktionieren könnten, Pasolinis "Würgeengel", das gibt es als Stück. Aber vielleicht sollte man auch über Utopien nachdenken. Wie ein Miteinander sein kann. Ich muss es zum Glück nicht entscheiden, ich bin raus.

Was vermissen Sie am meisten?
Berkenhoff: Ich vermisse die Menschen, die ich im Theater getroffen habe, ohne mit ihnen verabredet gewesen zu sein. Das spontane "Gehn wir zum Italiener". Kino sowieso. Mal so wieder etwas längere Abende. Ich bin so solide geworden.

Welche "Normalität" nach oder mit Corona können Sie sich vorstellen?
Berkenhoff: Die sogenannte "neue Normalität". Wir müssen auf uns selbst aufpassen. So einfach verschwinden wird das Mistvirus nicht. Selbst denken und sich schützen. Alles verändert sich. Außer dem Fernsehprogramm. Die zeigen ständig Krankenhausfilme. Betten in den Nachrichten, Betten im Unterhaltungsprogramm. Ab und zu treffe ich mich mit Freunden auf dem Tempelhofer Feld. Da sitzen wir entfernt voneinander und trinken Weißwein. Und schauen in die Weite. Es wird weitergehen.

DK

Die Fragen stellte Anja Witzke.