Weißenburg
Wilde Reise durch die Zeit

Uraufführung im Bergwaldtheater Weißenburg: Franzobels "Lebkuchenmann" durchschreitet Geschichte im Schnelldurchlauf

15.07.2019 | Stand 23.09.2023, 7:47 Uhr |
Profis und Laien standen beim "Lebkuchenmann" im Weißenburger Bergwaldtheater auf der Bühne. − Foto: Antonia Rieger/Uli Wagner

Weißenburg (DK) Eine wilde Reise durch die Zeit. Eine, die die Grenzen jedes Ereignisses verwischen lässt.

Ein rasanter Ritt auf dem Strahl der Geschichte, zwischen Hexentribunal und Hitlerschergen, zwischen übermütigen Ratsherren und Räuberbanden, zwischen Kindsmörderinnen und Kriegstreiben: "Der Lebkuchenmann" von Franzobel nimmt den Zuschauer mit in einen ganz eigenen Sommernachts-Alptraum.

Den hat der Ingeborg-Bachmann-Preisträger Franzobel als Weißenburger Stadtschreiber zum 90. Geburtstag des Bergwaldtheaters in der mittelfränkischen Kleinstadt entwickelt. Und ihm ist, gemeinsam mit Regisseur Georg Schmiedleitner, ein gigantisches Werk gelungen, das am Freitagabend in der Naturbühne eine zurecht umjubelte Premiere feierte.

Nur eines ließ an diesem Abend - zumindest ab dem zweiten Teil - zu wünschen übrig: das Wetter. Ein Gewitter entlud sich über dem Stadtwald, der Regen wollte nicht mehr aufhören. Umsomehr Respekt ist den mehreren Dutzend Schauspielern zu zollen, die unter widrigsten Umständen ein geniales Epos zu Ende gebracht haben. Damit verbundene Tonprobleme haben zwar manches untergehen lassen, aber in diesem Gesamtkunstwerk mit einer stimmigen Live-Musik zu allen Szenen ist das zu vernachlässigen.

Eines wird bei diesem Stück, für das Schmiedleitner Laien wie Profis auf der Bühne zu einem wundervollen Ensemble geformt hat, deutlich: Die Geschichte der Menschheit wiederholt sich, dem Publikum wird immer wieder der - historische, aber nicht minder aktuelle - Spiegel vorgehalten. Neid, Missgunst, Krieg, Streit, politische Verwicklungen stehen auf der einen Seite. Menschlichkeit, Friede, Aufklärung, Veränderung auf der anderen Seite.

Das alles spielt im (möglicherweise fiktiven) Weißenburger Stadtwald, in den es Paul (Sebastian Witt) nach einem Autounfall verschlägt. Er gerät in einen Strudel der Geschichte, aus dem er so schnell nicht mehr herauskommt, wird Opfer und Täter in Szenen von lokalen Ereignissen, die Franzobel in der Chronik der Stadt ausgegraben hat. Die wiederum sind eingebettet in die Weltgeschichte - und zeigen eines recht deutlich: Die Menschheit ist gefangen in einem ewigen Kreis. Die Botschaft des rund dreistündigen Spektakels: Es braucht mehr Hinsehen, mehr Lärmen, mehr Aufstehen.

So wie es der Lebkuchenmann will. Jene Gestalt mit einem Duft von Ingwer und einer Haut aus Lebkuchen - der Namensgeber des Stücks, der sich in die Geschichte(n) einschaltet und sie verändern will, kann, soll, darf. Er ist der Botschafter des Friedens, gegen den die abgrundtief böse Erlkönigin agiert und deren Elfe Phöbe den Auftrag hat, ihn auszuschalten. Denn sie will keine Versöhnung.

Wer den "Lebkuchenmann" auf der eigentlich verträumt-schönen Naturbühne in Weißenburg erleben will, den erwartet ein aufwendig inszeniertes Stück mit vielerlei Elementen: Franzobel nimmt sich Anleihen aus der griechischen Tradition, überzeichnet Szenen bis ins Groteske, lässt derbstes Bauerntheater aufleben. Und darin agieren Tatort-Schauspieler Andreas Leopold Schadt genauso wie Sebastian Witt oder Anna Mateur. Bettina Brezinski, die die Elfe Phöbe gab, ist erst drei Tage vor der Premiere für Josephine Köhler eingesprungen - und hat ihren Part wunderbar gemeistert. "Komm mit zu einer wilden Reise durch die Zeit", rief sie am Anfang ihrem Widerpart zu. Der wilde Ritt durch die Zeit war lohnenswert.

 

Marco Schneider

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